06 - Weihnacht
hatte Emil Reiter den Sichtwechsel akzeptieren müssen, um das Schweigen des Zeugen zu erkaufen; dann aber mußte man annehmen, daß der Aussteller Frank Sheppard und der Prayer-man eine und dieselbe Person seien; der Schriftenhändler jedoch hieß anders – – wenigstens jetzt!
Winnetou sah mich forschend an. Als ich die drei Papiere einsteckte, fragte er:
„Wir behalten sie?“
„Ja“, antwortete ich; „das eine enthält die Reiseroute nach dem Finding-hole, ist uns also außerordentlich wichtig, und die beiden andern können uns noch wichtig werden!“
„Diese Orte – – – uff! Sie bezeichnen fast ganz genau den Weg, den auch wir miteinander reiten werden!“
Jetzt also, jetzt brach er das Schweigen!
„Müssen wir auch da hinauf?“ fragte ich einfach, als ob ich es gewußt hätte, daß wir diesen monatelangen, beschwerlichen und gefährlichen Ritt machen würden.
„Ja“, antwortete er ebenso einfach. „Dein roter Bruder Winnetou hat gar nicht Zeit gefunden, Nuggets zur Reise nach dem Osten zu holen. Er ist unterwegs wieder umgekehrt, weil er erfuhr, daß die Krieger der Crows gegen die Krieger der Schoschonen den Tomahawk des Kampfes ausgegraben haben.“
„Ich dachte es mir, daß sie das tun würden!“
Diese meine Worte mußten ihm ganz unerwartet kommen; er fragte aber ohne das geringste Zeichen des Erstaunens:
„Mein weißer Bruder hat es gewußt?“
„Ja. Es sind von den Schoschonen sechs Crows getötet worden, welche gerächt werden sollen. Ich habe es hier von einer Squaw erfahren, deren Mann dabei gewesen ist und die von Yakonpi-Topa, dem Häuptling der Kikatsa-Crows, einen Brief empfangen hat.“
„Uff! Winnetou und Old Shatterhand müssen schnell fort, um ihre Freunde, die Schoschonen, zu unterstützen! Es sind auch noch andere Feindseligkeiten als diese Tötung zwischen ihnen vorgekommen. Yakonpi-Topa ist diesmal von dem verderblichen Brauch der roten Männer, gleich nach geschehener Ursache, ohne gerüstet zu sein, in den Kampf zu ziehen, abgewichen und trifft große Vorbereitungen. Er hat die River- und die Mountain-Crows, die Ahwahaways und die Allakaweahs aufgewiegelt und scheint auch die Krieger der Satsilaa, der Kahnas, Pingas und der Small Robes an sich ziehen zu wollen. Er ist ein alter und erfahrener, listiger Fuchs, während Wagare-Tey (‚Gelber Hirsch‘), der junge Häuptling der Schoschonen, noch nicht dreißig Winter zählt und mehr Aufrichtigkeit als Klugheit und Erfahrung besitzt.“
„Da müssen wir freilich schleunigst fort und auf dem kürzesten Wege hinauf! Der bequemste führt immer an dem Nord-Platte hin, macht aber so viele Windungen, daß man fast doppelt so lange braucht wie auf dem andern, der allerdings sehr beschwerlich ist und große Ortskenntnis erfordert, die wir aber glücklicherweise besitzen. Es ist das fast ganz genau der Weg, dessen Verzeichnis wir jetzt auf dem Zettel des Prayer-man gelesen haben, und so dürfen wir hoffen, daß wir ihn trotz seiner gelungenen Flucht auf dem Hin- oder Rückweg doch noch treffen. Ich wünsche das sehr! Und ich habe noch einen zweiten Wunsch, der mir durch deine Absicht, zu den Schoschonen zu reiten, leichter und schneller in Erfüllung gehen kann, als ich es bis jetzt für möglich hielt. Die Kikatsa halten nämlich ein Bleichgesicht gefangen, den Mann der Squaw, von welcher ich dir sagte, daß ihr Mann bei der Tötung der sechs Krähen zugegen gewesen sei und daß sie von Yakonpi-Topa einen Brief bekommen habe. Dieser Gefangene wird trotz allen Lösegeldes nicht freigegeben werden, und so muß man ihn entweder durch Gewalt oder mit List den Kikatsa entreißen.“
„Hat mein Bruder Shatterhand einen Grund, sich seiner anzunehmen?“
„Ja; du sollst ihn erfahren.“
Ich erzählte ihm von Frau Hiller und ihrem Sohne, und zwar tat ich das, um sein Interesse an diesen beiden Personen zu vergrößern, etwas ausführlicher, als es sonst wohl geschehen wäre. Ich bemerkte zu meiner Genugtuung auch, daß ich die beabsichtigte Wirkung erzielte. Er hörte sehr aufmerksam zu und erkundigte sich dann:
„Mein Bruder Scharlih hat, wie ich höre, diese Squaw und ihren Sohn liebgewonnen?“
„Ja. Sie hat soviel Schlimmes erlebt und erfahren, daß ich ihr die schwere Trübsal, ihren Mann zu verlieren, ersparen möchte.“
„Uff! Sie ist durch großes Elend gegangen, um sich wieder mit ihm zu vereinigen. Ihr Herz ist treu; das muß Belohnung finden! Also sie hat vom Mitleide anderer Menschen leben
Weitere Kostenlose Bücher