06 - Weihnacht
einst für ihn gefühlt hatte, heute wieder empfand und die er wirklich auch verdiente. Als ich zu Ende war, blieb Winnetou eine Weile in sich gekehrt; dann sagte er:
„Uff! Das Leben der Bleichgesichter ist ein fast unbegreiflich sonderbares! Unter den Söhnen der roten Männer könnte es niemals einen geben, wie der ist, für welchen du das Mitleid meines Herzens erwecken willst. Eure Väter haben das Recht, das Gehirn ihrer Kinder durch den Zwang, etwas werden zu sollen, was sie nicht werden können, zu morden und sie um das Glück ihres Lebens zu bringen. Und wenn dieses Gehirn sodann den Dienst versagt, klagen sie über ungeratene Söhne! Dein Schützling ist nicht nur krank am Geiste, sondern auch krank am Körper; ich habe es ihm angesehen, gleich als mein Auge auf ihn fiel. Wie der Zwang, ein gelehrter Mann zu werden, an seinem Geiste gezehrt hat, grad wie der Kinnikinnik (Sumach) die Kraft des Bodens verzehrt, so daß nichts neben ihm gedeiht und er dann selbst untergeht, so hat die erzwungene Arbeit über den Büchern und die darauf folgende Verstoßung aus der Heimat auch die Kräfte seines Körpers aufgefressen. Wir werden ihn vor dem Tode im eisigen Wasser des Finding-hole bewahren, aber dennoch wird er weder das Land seiner Vorfahren noch auch nur die grünen Prärien des Kansas oder die häuserstarrenden Städte des Ostens wiedersehen, denn der Schnee des Westens wird auf die Stelle fallen, wo das Erbarmen der Erde ihn willkommen heißt. Mein Bruder Scharlih mag mild und nachsichtig mit ihm verfahren, denn ein guter Mensch darf nicht den Vorwurf auf sich laden, die letzten Stunden eines Sterbenden schwergemacht zu haben. Wenn die Sonne hinuntersinkt , umkleidet sich der Himmel mit Farben von Gold und Silber; so soll der Heimgang deines armen Bruders verklärt und erleichtert werden durch das vor ihm verborgene Mitleid unserer Herzen, welches uns gebietet, und mit ihm zu sein. Wozu wäre die Liebe auf Erden, wenn sie sich nicht bereit zeigte, die unverschuldeten Leiden und Schwächen der Brüder und Schwestern tragen zu helfen. Howgh!“
Welch ein herrlicher Mann! So fühlte, so dachte und so sprach ein Indianer, also ein sogenannter Wilder! Ich habe überhaupt mehr sogenannte als wirkliche Wilde getroffen, ebenso, wie man sehr leicht dazukommen kann, mehr sogenannte als wirkliche Christen kennen zu lernen.
Was Winnetou jetzt in Worten aussprach, hatte auch ich gleich beim ersten Anblicke Carpios empfunden, über dessen leidendes Aussehen ich schon eine Andeutung gemacht habe. Er war schon früher zerstreut gewesen, ja, aber doch jugendlich lebhaft dabei; ich hatte, wie man noch wissen wird, schon damals die Ansicht gehabt, daß die Zerfahrenheit sich vergrößern und ihm in seinem Fortkommen hinderlich sein werde, und diese Befürchtung war nun eingetroffen; die Verwechslung meiner Person mit der seinigen in Beziehung auf seinen damaligen ‚Heißhunger‘ bewies das zur Genüge. Auch von seiner früheren Munterkeit war keine Spur mehr vorhanden. Bei oberflächlicher Beurteilung hätte man ihn als schwermütig bezeichnen mögen, aber er war mehr als das. Er war körperlich in so geradezu unverantwortlicher Weise angestrengt und übermüdet worden, daß ihn nur die größte Schonung retten konnte; er bedurfte einer langen, langen Ruhe, die ihm zu bieten, uns leider ganz unmöglich war. Und noch größer als seine körperliche war seine geistige Ermattung. Er hatte die Kraft des innern Antriebes vollständig verloren; er besaß nicht die geringste Spur mehr weder von Initiative noch von Energie. Sein Gesicht war ausdruckslos, ich möchte noch lieber sagen ausdrucksleer, und wenn man dennoch nach etwas suchte, was sich in demselben aussprach, so konnte man nur von einer hilflosen Gleichgültigkeit reden, die alles ohne Widerstand mit sich machen ließ. Er war für die Absichten Corners und seiner Genossen ein Opfer, ein Werkzeug gewesen, wie sie es sich gefügiger gar nicht hätten denken können. Es tat mir nicht nur leid, sondern weh, unendlich weh um ihn, aber ich konnte nicht anderer als ganz derselben Meinung mit Winnetou sein, nämlich daß es uns bei den jetzt gegebenen Verhältnissen nicht gelingen werde, seinen körperlichen und geistigen Verfall aufzuhalten. Wir hätten ihn der ihm so nötigen Ruhe wegen entweder in guten Händen hier zurücklassen oder ihn nach dem Osten bringen müssen, und da dies beides zu den Unmöglichkeiten gehörte, so konnte es für uns nur die Überzeugung geben,
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