06 - Weihnacht
daß ‚das Erbarmen der Erde ihn hier im wilden Westen willkommen heißen werde‘, wie Winnetou sich so poetisch schön ausgedrückt hatte, mit andern, nicht so blumenreichen Worten gesagt, daß wir gezwungen sein würden, ihn hier auf den Höhen des Felsengebirges zu begraben. Der Häuptling hätte mich gar nicht aufzufordern brauchen, aus diesem Grunde Nachsicht mit meinem armen Carpio zu üben, denn ich fühlte für denselben ein so großes Mitleid und Bedauern, daß mir ein auch nur einigermaßen scharfes Wort zu ihm unmöglich gewesen wäre.
Ich hatte ihm natürlich gesagt, wer Rost war und welche Absichten dieser mit dem jetzigen Ritte verfolgte; aber weder die Person noch das Vorhaben dieses neuen Bekannten konnte ihn aus seiner Gleichgültigkeit reißen; er ritt teilnahmslos neben ihm her, ohne auf eine Unterhaltung mit ihm einzugehen. An Winnetou wagte er sich nicht, und so war ich es nur, dem es gelang, ihn von Zeit zu Zeit aus seiner Versunkenheit zu reißen. Bei einer dieser Gelegenheiten erkundigte ich mich nach einigen Bekannten aus der Jugendzeit. Er antwortete in seiner teilnahmslosen Weise:
„Die gehen mich schon seit langer Zeit nichts mehr an. Als du fort warst, hat sich fast kein Mensch mehr um mich gekümmert, und da ist es mir nicht eingefallen, irgend jemand um die Gnade, mit mir zu verkehren, anzubetteln. Du weißt, ich kann es nicht vertragen, wenn andere in ihrer Zerstreutheit Dummheiten begehen und sich dann, indem sie die Schuld auf mich werfen, über mich lustig machen.“
„Weißt du nicht, wie es meinem alten Kantor geht, der mir Unterricht im Generalbaß gab?“
„Nein; aber ich glaube, einmal gehört zu haben, daß er noch lebt.“
„Und Krüger, dem ich es zu verdanken hatte, daß der Kantor meine fehlerhafte Motette drucken ließ?“
„Du, das kann ich dir ganz genau sagen, denn ich habe später einmal mit ihm gesprochen. Denke dir, er war Clown und hat die Schwester eines Zirkusmusikanten geheiratet.“
„Hm! Vielleicht willst du sagen, daß er Zirkusmusikant war und die Schwester eines Clowns geheiratet hat?“
„Nein! Beleidige mich nicht! Ich will gar nichts anderes sagen, als was ich sage, und du mußt ganz genau wissen, daß ein solcher Irrtum ein für allemal bei mir ausgeschlossen ist. Also frage mich lieber nicht nach Leuten, mit denen ich nichts zu tun haben mag!“
„Gut! Wollen wir also von dir reden! Das erlaubst du doch?“
„Ja, denn ich sehe ein, daß du gern wissen möchtest, wie es mir ergangen ist. Ich kann dir da freilich nicht viel Erfreuliches erzählen. Es muß meinem Vater von einem bösen Geiste eingegeben worden sein, daß ich partout studieren sollte, obgleich mir nichts weniger als alles dazu fehlte. Ich wollte Kunsttischler oder auch Kunstschlosser werden, und hätte ich das gedurft, so wäre ich jetzt wohl ein anderer Mensch! Es ist von frühester Kindheit an mein größtes Vergnügen gewesen, zu schneiden und zu schnitzen, und daß ich kein ganz übles Geschick dazu hatte, kann dir jenes von mir konstruierte Sicherheitsschloß beweisen, welches ich mit auf unsere Weihnachtswanderung nahm. Leider warst du schuld, daß wir es nicht in Anwendung bringen konnten.“
„Ich? Wieso?“
„Weil du die dazugehörigen Schrauben verloren hattest. Ich habe seitdem keinem Menschen wieder etwas Wichtiges in Verwahrung gegeben. Da ich dich aber nicht kränken mag, wollen wir lieber davon schweigen. Als ich dich nicht mehr hatte, wurde mir das Lernen doppelt schwer, Latein und Griechisch waren mir ein Greuel; ich kam auch in andern Fächern nicht vorwärts und blieb infolgedessen sitzen. Ich bat den Vater oft unter Tränen, dieser Qual ein Ende zu machen; er aber bestand auf seinem Willen, bis er sich schließlich durch die ernsten Vorstellungen meiner Lehrer gezwungen sah, mich vom Gymnasium wegzunehmen; aber von der Erlernung eines Handwerks durfte ich auch jetzt nicht sprechen. Er entschied sich für den Verwaltungsdienst, und ich kam als jüngster Schreiber in das städtische Amt, wo ich es wegen der unbegreiflichen Zerstreutheiten meiner Vorgesetzten nicht länger als zwei Monate aushalten konnte. Nun wurde ich in das Büro eines Advokaten gesteckt, wo ich von früh bis abends zu kopieren und zu mundieren hatte, daß mich dieses ewige Einerlei gewiß verrückt gemacht hätte, wenn ich ein weniger gesammelter Kopf gewesen wäre. Unglücklicherweise hatte der Bürochef, welcher überhaupt kein zuverlässiger Mensch war, einmal die Nummern
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