06 - Weihnacht
Aber wie bist du denn auf den tollkühnen Gedanken gekommen, dich hier im Blute der roten Rasse zu baden? Du warst doch sonst ein so lieber, guter und mitleidiger Mensch!“
„Zunächst diene dir zur Beruhigung, daß ich mich nicht in diesem Blute bade; ich bin vielmehr als Indianerfreund bekannt. Und sodann bemerke ich, daß der Westmann, der ich bin, nur ein Teil von mir ist. Ich bestehe nämlich noch aus einigen andern Existenzen.“
„Höre, du bist mir ein Rätsel, ein großes Rätsel geworden! Du scheinst ja mitten in lauter Geheimnissen zu stecken!“
„Vielleicht ist es umgekehrt: die Geheimnisse stecken in mir oder vielmehr in meinen Taschen. Da in meiner rechten Jagdrocktasche habe ich zum Beispiel eins, welches sich auf dich bezieht.“
„Auf mich? Ein Geheimnis? Du machst mich neugierig. Darf ich es erfahren?“
„Ja. Kennst du das?“
Ich gab ihm die gestern im Moos gefundenen Sporen; er betrachtete sie und sagte:
„Wie kommst du zu diesen Sporen? Ich kenne sie.“
„Ich habe sie im Walde, ganz in der Nähe eures Lagerplatzes gefunden.“
„Dort? Also habe ich doch recht gehabt!“
„Womit?“
„Mit meiner Behauptung, welche der Onkel nicht glauben wollte. Das hier sind seine Sporen.“
„Nicht die deinigen?“
„Nein.“
„Ganz gewiß nicht?“
„Ganz gewiß! Ich werde doch meine Sporen von denen meines Onkels unterscheiden können! Ich hatte die meinigen heruntergemacht, weil sie mein Pferd, dessen Seiten sehr gefühlvoll waren, unaufhörlich kitzelten. Ich gab sie dem Onkel; er sollte sie aufbewahren; das ist ihm sehr willkommen gewesen, und er hat sie angesteckt, weil er die seinigen verloren hatte.“
„Lieber Carpio, ist das nicht vielleicht eine Verwechslung?“
„Verwechslung? Bitte, wie kannst du eine solche unmotivierte Frage aussprechen! Du kennst mich doch von früher ganz genau, genauer, als jeder andere Mensch mich kennt, und mußt also wissen, daß mir dergleichen Schwächen und Unbegreiflichkeiten himmelweit fernliegen. Ich kann mich ohne Überhebung rühmen, daß ich mich einer Verwechslung oder sonstigen Zerstreutheit in meinem ganzen Leben niemals schuldig gemacht habe. Bei mir geht alles seinen richtigen, logisch vorgeschriebenen und unfehlbaren Gang. Ich bin vielleicht sogar zu logisch für das Leben und habe es nur deshalb noch zu nichts gebracht. Leider hat das Geschick grad mich dazu ausersehen, immer und immerwährend unter den Gedankenlosigkeiten meiner Mitmenschen zu leiden. Ich mag hinkommen, wo es nur immer sei, stets treffe ich eine Person, welche eine Konfusion anrichtet. Sogar dich kann ich nicht davon ausnehmen, obgleich du mir teurer als jeder andere bist.“
„Mich?“ fragte ich erstaunt.
„Ja, du brauchst dich nicht zu wundern, und auch ich wundere mich ganz und gar nicht darüber, daß du es nicht zugeben willst, denn grad alle diese verworrenen Menschen halten sich geradezu für wahre Muster der Ordnungsliebe und Regelmäßigkeit; du jedenfalls auch!“
„Ich will meine Fehler ja gern eingestehen, wenn du sie mir bezeichnen kannst. Erinnerst du dich einer solchen Konfusion von mir?“
„Einer großen, außerordentlichen Verwechslung, unter welcher meine Ehre sehr zu leiden hatte. Ich habe aber damals geschwiegen und alles auf mich genommen, um dich nicht zu kränken.“
„Nun bitte!“
„Erinnerst du dich unsere Nachtlagers bei dem Wirte Franzi in Falkenau?“
„Ja.“
„Du hattest damals sehr starke Zigarren geraucht und infolgedessen nichts gegessen. Es kam wohl auch ein kleiner Weinrausch dazu; kurz und gut, du konntest nichts genießen und bekamst darum mitten in der Nacht einen solchen Heißhunger, daß du eine ganze große Magenwurst aufgegessen und dann, um dies zu verbergen, die leere Haut voll Bettfedern gestopft hast. Erinnerst du dich noch?“
„Hm, ja!“
„Damit nicht genug, hast du auch noch einen ganzen Kuchen verzehrt; ich kann es jetzt nicht mehr behaupten, ob es ein Quark- oder ein Apfelkuchen gewesen ist. Am andern Tag warst du natürlich zum Zerplatzen voll und so magenkrank, daß du dich kaum im Schlitten aufrecht halten konntest. Ich habe dein trübseliges Gesicht noch heute so genau und deutlich wie damals vor meinen Augen. Natürlich wurde das Fehlen eines Kuchens und einer Wurst bemerkt, und da ein Schwerkranker, welcher du doch warst, unmöglich soviel Wurst und Kuchen verzehren kann, fiel der Verdacht auf mich, und ich habe ihn in stiller Ergebung getragen. Bist du nun überzeugt, lieber
Weitere Kostenlose Bücher