06 - Weihnacht
und Aufschriften zweier sehr wichtiger Aktenstücke verwechselt; er schob aber die Schuld auf mich, und ich wurde entlassen. Dann kam ich als Schreiber an den Bahnhof, dessen Vorstand von Adel und ein Freund meines Vaters war, später zu einem Kaufmanne, einem Baumeister, in eine Buchhandlung, eine Schokoladenfabrik – – kurz, ich wurde von einem Menschen nach Hause und von da aus wieder einem andern zugeschoben, bis die unausbleiblichen Folgen eintreten mußten; ich hielt es nirgends mehr aus! Nun sagte sich Vater von mir los. Ich versuchte alles, was man versuchen kann, wenn man nichts gelernt hat und nichts ist, und brachte es schließlich bis zum Kolporteur. Als solcher fristete ich mich durch mehrere Jahre hin, obgleich es gewiß kein glücklicher Beruf ist, sich immerwährend mit vergeßlichen Abonnenten herumzustreiten, welches Blatt oder Buch sie zu bekommen haben oder welches nicht.“
„Aber dein reicher Verwandter in Amerika?“ fragte ich, als er jetzt eine Pause machte. „Wandtest du dich denn nicht an ihn?“
„O doch! Meine Briefe blieben lange, lange ohne Antwort, bis sich auch mein Vater einmal um Geld an ihn gewendet hatte; da schickte er diesem zweihundert Dollars und mir den Betrag zur Fahrt nach Pittsburg, wo er damals wohnte. Ich kam herüber und wurde von ihm gegen freie Station als Schreiber angestellt; Gehalt bekam ich nicht. Das bißchen Englisch, welches ich von früher her noch nicht vergessen hatte, kam mir dabei zustatten; was ich nicht verstand, das wurde mir von ihm diktiert. Er ist reich, sehr reich, aber Millionen scheint er doch nicht zu besitzen; das merkte ich doch mit der Zeit. Ein Eldorado war diese Stellung nicht für mich!“
„Was trieb oder treibt er eigentlich für ein Geschäft?“
„Darüber bin ich mir im ganzen unklar geblieben; es müssen Geldgeschäfte sein. Ich hatte oft längere Zeit gar nichts zu tun, und dann gab es wieder Schreibereien, deren Zweck und Inhalt mir nicht ganz verständlich war. Wir mußten plötzlich schnell von Pittsburg fort und zogen nach St. Louis, wo wir nun seit einem Jahre wohnen. Vor einiger Zeit kam erst Sheppard und dann Corner zu uns; es wurden heimliche Verhandlungen gepflogen, und dann sagte mir der Onkel, der eigentlich nur ein weitläufiger Vetter aber nicht Onkel ist, daß wir nach dem Westen reiten würden, um eine ungeheure Menge von Gold zu holen.“
„Warst du denn gleich bereit, mitzugehen?“
„Warum sollte ich nicht? Ich kann weder Corner noch Sheppard leiden; beide sind mir verhaßt; aber Gold ist's, was ich brauche, und man hat mir versprochen, daß mein Anteil ein ganzes Vermögen betragen wird. Jetzt freilich traue ich der Sache nicht mehr recht. Ich kann zwar nichts Bestimmtes sagen, aber ich bin unterwegs fast wie ein Hund behandelt worden und habe dieses schauderhafte Leben satt, satt, so satt, wie ich es dir gar nicht sagen kann! Wie oft habe ich gewünscht, vom Pferd zu fallen und gleich tot zu sein! Es ist mir sogar der Gedanke gekommen, mir eine Kugel durch den Kopf zu schießen, und ich hätte das gewiß auch getan, wenn ich nicht wüßte, was das für eine große, große Sünde ist! Denn, sage ich dir: wenn mir alles, alles verloren gegangen ist, meinen Glauben an den Herrgott habe ich festgehalten, und wenn ich alles, alles, was ich früher lernte, vergessen habe, dein Weihnachtsgedicht kann ich noch heut auswendig, und so oft die Versuchung an mich trat, meinem Elende ein schnelles Ende zu machen, mußte ich an deine Mahnung denken:
‚Hat der Herr ein Leid gegeben, Gibt er auch die Kraft dazu;
Bringt dir eine Last das Leben,
Trage nur, und hoffe du!‘
Vielleicht würden diese Worte mich nicht so gestärkt haben, wenn sie von einem andern stammten; aber ich bin früher gewohnt gewesen, auf alles, was du sagtest, doppelt Wert zu legen, weil deine Meinung stets die richtige war, und wenn mir diese Strophe einfiel, war es mir immer so, als ob du persönlich vor mir ständest und ich deine liebe Stimme hörte. Weißt du, wenn ich an meine Jugendzeit zurückdenke, so kommt es mir grad so vor, als ob ich in einen regnerisch trüben Tag hineinsähe; es gibt nichts darin, was mich erfreut, nichts, gar nichts, als nur eine einzige Gestalt, an die ich gern denke und auch gern denken darf, weil sich an sie kein Leid, kein Vorwurf für mich knüpft. Diese Gestalt ist mein guter Sappho, der sich soviel Mühe mit mir gegeben hat, ohne etwas aus mir machen zu können. Jetzt bist du wieder bei mir und
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