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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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vorkam, als es mir vorher gewesen war. Eben, als wir an den Schießstand traten, wurden die Bedingungen ausgerufen. Jeder hatte sich seines eigenen Gewehres zu bedienen und die fünf Schüsse in zwei Minuten abzugeben. Die geschossenen Nummern sollten addiert und dann durch fünf dividiert werden; wer den größten Quotienten hatte, war der Sieger.
    Die Entfernung betrug, so schätzte ich, hundertundzwanzig Schritte; der Treff ins Schwarze war also ein reines Kinderspiel. Wenn es hier etwas zum An- oder Erstaunen gab, so war es der Umstand, daß jeder sein eigenes Gewehr haben sollte. Der Prayer-man besaß also eins, und nicht nur das, sondern er hatte es auch mit; er führte es also stets mit sich herum; der Handel mit Traktätchen war also nur Nebensache oder vielmehr Mittel zum Zweck für ihn. Er war nach der Stadt in das Hotel geeilt und kam jetzt mit dem Gewehre von da zurück.
    Ich stand ziemlich weit von ihm, sah aber doch, daß der Lauf mit einer Säure stumpfgebeizt war; das machte mich neugierig, und ich forderte Hiller auf, hinzugehen, um unauffällig zu erfahren, ob in der Nähe des Schlosses eine Firma in den Lauf gestanzt sei. Es wurde ihm leicht, dies zu erfahren, denn es gab mehr Wißbegierige, welche das Gewehr in die Hand nahmen und es betrachteten. Er kam wieder und teilte mir mit, daß er ‚ Ralling , Shelbyville, Tenn.‘ gelesen habe.
    Dieser Name machte mich stutzig. Es gibt oder vielmehr es gab im Wilden Westen Jäger, welche ihrer Gewehre wegen allbekannt oder gar berühmt waren. Wenn so ein Mann irgendwo erschien, ging sein Gewehr von Hand zu Hand; es wurde betrachtet, geprobt und beurteilt, wie ein seltenes Pferd von Kennern in die Augen genommen wird. Jeder, der es gesehen und seiner Prüfung beigewohnt hatte, erzählte an andern Orten davon, und so kam es, daß jeder bewanderte Westmann die meisten guten Gewehre, welche es jenseits des Mississippi gab, entweder gesehen hatte oder nach ihrem Firmenstempel oder dem Namen des jetzigen Besitzers kannte. Winnetou und ich, die wir so weit herumgekommen waren, konnten mit Recht behaupten, die Kenntnis solcher Gewehre in höherem Grade als jeder andere zu besitzen. Diese Kenntnis war bei uns zu einer Art Lieblingswissenschaft geworden, in welcher wir uns bei jeder Gelegenheit zu bereichern suchten. Nun kannte ich nur zwei Gewehre, welche den Ralling-Stempel trugen. Das eine besaß ein Unterhäuptling Winnetous, welcher Nonton (Anführer) der Pinal-Apatschen war; das andere gehörte Arnos Sannel, einem alten, biederen Pelzjäger, den wir oben in Utah und dann auch einmal in Montana getroffen hatten. Wir waren mehrere Wochen lang mit ihm zusammen gewesen und hatten da mit seiner Erlaubnis manchen Schuß aus seinem vorzüglichen Einläufer getan. Er hatte in die beiden Backen des Schlosses Blumen ätzen lassen, deren Staubfäden rechts am Laufe ein A und links ein S bildeten; doch mußte man, um dies zu sehen, überhaupt wissen, daß die Fäden Buchstaben seien. Wir hatten nichts vom Tode dieses braven Alten gehört, und ich nahm darum an, daß es sich hier beim Prayer-man um ein drittes Gewehr von Ralling handle. Das war aber auch schon genug, in mir den Wunsch zu erregen, es einmal in die Hand nehmen zu dürfen.
    Jeder der beiden Wettenden bekam eine zwölfkreisige Scheibe für sich. Kreis No. 12 war der innerste und schloß das Schwarze ein; der äußerste Kreis hatte die No. Eins; je besser der Schuß, desto höher war also die Nummer. Es wurde um die Reihenfolge gelost; Watter hatte zuerst zu schießen. Das Geld war in die Hände einer Dame gelegt worden.
    Ich muß sagen, daß ich, als er zum ersten Schusse anlegte, einige Schritte vorwärts machte, um ihm näher zu stehen. Der Westmann in mir machte sich doch geltend! Er schoß eine Acht. Das war, da er schon vorher geschossen hatte und sich heute also in Aktion befand, ein schlechter Schuß. Dann kam gar eine Sieben, hierauf aber ein Schwarz, welchem eine Elf und eine Neun folgte. Er hatte also zusammen 47 Points geschossen, 9 ∕ auf die Kugel. Wenn durch diese Fertigkeit die ganze hiesige Jägerkompagnie vorher von ihm besiegt worden war, so war es freilich leicht, ihren Mitgliedern eine Wette anzutragen!
    Jetzt trat der Prayer-man vor. Meine Aufmerksamkeit verdoppelte sich, denn wie er jetzt dastand, in dieser Haltung und mit diesem aus halb zusammengekniffenen Augen auf die Scheibe gerichteten Blick, war er kein Traktätchenhändler mehr. Hätte ich ihn in diesem Augenblick zum

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