06 - Weihnacht
unsicheren Schrittes auf den Tisch zu, an welchem er schon gestern gesessen hatte und dann von mir wieder niedergesetzt worden war; heut nahm er von mir keine Notiz. Von dem Oberkellner gefragt, ob er speisen wolle, antwortete er abweisend:
„Nein, keinen Bissen! Aber bringt mir eine Flasche Wein, so stark, wie Ihr ihn habt! Wenn man von einem Hunde gebissen worden ist, muß man Hundehaare auflegen.“
„Seid Ihr denn auch gebissen worden?“ fragte der Oberkellner lächelnd.
„Nicht sehr, sondern nur ein bißchen; aber der Prayer-man war totgebissen worden, vollständig totgebissen! Wißt Ihr das, Mr. Rost?“
„Ja; die zwei Kellner, welche ihn mit hinaufgeschafft haben, erzählten es mir.“
„Ja; er war so toll betrunken, daß er nicht stehen und nicht gehen konnte. Ich mußte mich seiner annehmen und bat sie, mir zu helfen. Da haben wir ihn über den Hof hinüber nach dem Hintergebäude und hinauf in seine Stube getragen. Ist er schon dagewesen?“
„Nein.“
„Das läßt sich denken, denn sein Rausch war ein so schwerer, daß er leicht vor Abends nicht – – – alle Teufel, er kann ja doch noch gar nicht dagewesen sein, denn er kann nicht heraus und herunter!“
„Warum nicht?“
„Weil ich den Schlüssel zu seiner Stube eingesteckt habe. Er war nämlich trotz seiner Betrunkenheit sehr auf seine Sicherheit bedacht. Er konnte zwar nur noch lallen, aber ich verstand dennoch seinen Wunsch. Er hatte gestern durch den Verkauf seiner Schriften Geld eingenommen, für welches er besorgt war. Er befürchtete, man könne seinen Rausch benutzen und sich bei ihm einschleichen, um es ihm abzunehmen. Darum bat er mich, ihn einzuschließen und den Schlüssel einzustecken.“
„Ein sonderbarer Wunsch, den nur ein Betrunkener haben kann!“ bemerkte der Oberkellner.
„Warum?“
„Er konnte sich doch selbst einschließen und den Schlüssel zu sich in das Zimmer nehmen.“
„Das ist richtig, und das sagte ich ihm auch; aber was kann man gegen die Idee eines berauschten Menschen tun? Nichts, gar nichts. Ich mußte ihm seinen Wunsch erfüllen. Er hat eine fürchterliche Schlappe erlitten, denn er behauptete, daß er wenigstens fünfmal soviel wie ich vertragen könne, und wurde doch von mir totgetrunken, obgleich er sich außerordentlich dagegen stemmte. Ich muß doch einmal hinübergehen, um nachzusehen, wie es mit ihm steht.“
Er stand von seinem Tische auf und ging.
Dieser Mann freute sich seines Trinkersieges, auf den er stolz war, während ich eine ganz andere Ansicht über diese Sauferei, denn anders konnte man es nicht nennen, hatte. Wetten darüber, wer mehr essen oder mehr trinken kann, sind mir abscheulich. Das Verlangen des Prayer-man an Watter, ihn einzuschließen und den Schlüssel einzustecken, kam mir ganz und gar nicht wie das unmotivierte Verlangen eines Betrunkenen vor; ich ahnte vielmehr, daß der Schriftenhändler sich nur so berauscht gestellt hatte, um irgendeinen Zweck zu erreichen. Indem ich über diesen Zweck nachdachte, kam ich auf den Gedanken, daß es sich da vielleicht um einen Alibibeweis handle. Hatte ich damit das Richtige getroffen, so war während der vergangenen Nacht das Gold Watters verschwunden. War es da nicht meine Pflicht, ihn, wenn er jetzt wieder kam, aufzufordern, sofort einmal nach seinen Nuggets zu sehen? Eigentlich wohl ja, uneigentlich aber nein, und ich zog bei dem jetzt zwischen ihm und mir bestehenden gespannten Verhältnisse, welches er selbst geschaffen hatte, das ‚Uneigentlich‘ dem ‚Eigentlich‘ vor.
Daß ich beschloß, zu schweigen, hatte auch noch einen andern, außerordentlich triftigen Grund. Selbst wenn meine Ahnung sich bewahrheitete und die Nuggets also verschwunden waren, durfte ich überzeugt sein, daß alle Nachforschungen nach ihnen vergeblich sein würden. Der Prayer-man konnte beweisen, daß er im öffentlichen Gastzimmer gesessen und sich einen so schweren Rausch angetrunken habe, daß er getragen werden mußte, und dann bis jetzt in seiner Stube eingeschlossen gewesen sei. Der Kumpan, mit dem ich ihn im Nebenzimmer belauscht und welcher die Tat ausgeführt hatte, war mit den Nuggets fort. Niemand kannte ihn. Ich konnte nicht beweisen, daß er mit dem Prayer-man in heimlichem Einvernehmen gestanden hatte. Daß zwei Männer in der Stube neben der meinigen gewesen seien, würde man mir wohl kaum glauben, denn schon der Oberkellner hatte es bezweifelt, und selbst wenn man es mir glaubte, war damit so gut wie nichts bewiesen.
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