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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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erstenmal gesehen, ich hätte sofort gesagt, daß es ein Westmann, und zwar kein schlechter, sei. Natürlich hat das Wort ‚schlecht‘ hier nicht auf die moralischen Eigenschaften Bezug.
    Sich leicht vorbiegend, nahm er das Gewehr in einer Weise in Anschlag, welche nur den guten Westschützen kennzeichnet, zielte kurz und drückte ab. Er schoß eine Zehn.
    „Das war der erste Schuß“, lachte er. „Es wird schon besser werden, Mesch'schurs!“
    Der zweite Schuß brachte wieder zehn; auf den dritten und vierten fiel Schwarz, und der fünfte traf die Elf. Er hatte also zusammen 55 geschossen, durchschnittlich also genau eine Elf.
    Watter senkte den Kopf. Er hatte gestern dem Prayer-man jedenfalls viel von seinen großen Eigenschaften als Westmann erzählt, weil er des Glaubens gewesen war, daß dieser vom far-west gar nichts verstehe, und mußte nun sehen, daß er von diesem vermeintlichen Kenntnislosen um acht Points und hundert Dollars geschlagen worden war! Der Sieger, dem man zujubelte, verbeugte sich in stolzer, selbstbewußter Weise nach allen Seiten und näherte sich der erwähnten Dame, um den Preis aus ihrer Hand zu nehmen. Aber noch war er nicht ganz bei ihr, so hielt er an, drehte sich um und erhob die Hand zum Zeichen, daß man schweigen möge. Ich ahnte, was für ein Entschluß in ihm erwacht war. Der Wetteufel ist, wo es eine Gelegenheit zum Verluste des Gewonnenen gibt, immer bereit, sein schadenfrohes Spiel zu treiben.
    „Myladies und Mesch'schurs“, rief er. „Ich will nicht weniger anständig sein, als Mr. Watter vorhin gewesen ist. Er hat seinen Preis wieder ausgeboten, und ich tue das auch. Es stehen zweihundert Dollars auf fünf Schüsse. Wer setzt dieselbe Summe dagegen?“
    Kein Mensch antwortete. Ich sah Watter an. Sollte er denn nicht versuchen, wieder zu seinem Verluste zu kommen und noch hundert Dollars dazu? Er schien mit sich zu Rate zu gehen. Bis jetzt hatte er nur fünfzig Dollars verloren; nun aber handelte es sich um das Vierfache, und das schien ihm zuviel zu sein. Frau Hiller legte ihre Hand an meinen Arm und sagte leise:
    „Das wäre jetzt etwas für Sie!“
    Ihr Sohn hatte das gehört und wies sie zurecht:
    „Da müßte er seine Gewehre mithaben; mit einem fremden schießt selbst der größte Meister keine fünfundfünfzig auf fünf Kugeln weg!“
    Ich antwortete nicht, denn ich hielt es für vollständig ausgeschlossen, daß ich in irgendeiner Weise hier in Betracht kommen könne. Mir war es nur darum zu tun, das Gewehr des Prayer-man einmal betrachten zu dürfen. Aber es sollte doch anders kommen, als ich gedacht hatte!
    Der Sieger wiederholte sein Angebot noch einigemal, doch ohne Erfolg. Er blickte dabei im Kreise herum, wobei sein Auge auch auf mich traf. Es blieb an mir haften. Sein Gesicht nahm einen höhnischen Ausdruck an, welcher mir die sofortige Überzeugung gab, daß er sich jetzt von seiner Rachsucht hinreißen lassen werde, mich zu blamieren. Richtig! Er hob den Arm, zeigte auf mich und rief:
    „See, see! Da steht ja einer, der so tut, als ob er die Klugheit mit tausend Löffeln gegessen habe! Er hat gestern Mr. Watter, der doch ein kluger, unvergleichlicher Westmann ist, so mit Gescheitheit förmlich überschüttet, als ob Männer wie Old Firehand oder Old Shatterhand dumme Jungens gegen ihn seien. Seht ihn doch einmal an! Er ist seines Zeichens Schriftsteller, ein Papierfresser und Tintentrinker, tut aber so dick, als ob er die Pfiffe und Kniffe des ganzen Wildwest im Leibe habe! Jetzt hat er Gelegenheit, zu beweisen, daß er nicht bloß Worte zu machen verstehe. Ich rufe ihm zu: Come on!“
    Jetzt waren natürlich aller Augen auf mich gerichtet, und zwar in einer für mich nicht schmeichelhaften Ausdrucksweise. Frau Hiller und ihr Sohn waren entrüstet darüber; ich blieb aber ruhig und antwortete nicht.
    „Da habt Ihr es, daß er kein Wort sagen kann!“ fuhr der Prayer-man fort. „Solche Prahlhänse bekommen eine wahre Todesangst, wenn es sich um Taten handelt!“
    Da fiel Watter, dem dies natürlich aus der Seele gesprochen war, lachend ein:
    „Gebt Euch keine Mühe! Dieser Mensch hat ja in seinem ganzen Leben noch kein Gewehr in der Hand gehabt; das sieht man ihm ja an!“
    „Oder hat er kein Geld!“ rief der Prayer-man wieder. „Er mag nur hundert gegen meine zweihundert setzen, ja, nur fünfzig! Seht Ihr, wie verlegen er wird? Er schwitzt schon vor Angst!“
    „Wenn ich wäre wie Ihr, so ließe ich ihn ohne Einsatz mittun; er trifft doch die

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