06 - Weihnacht
Geheimnisse geworfen habe; aber jetzt, da der Sheriff eine noch viel größere Dummheit beging, konnte ich mich nicht mehr über die meinige ärgern. Mir war es in diesem Augenblicke vollständig gleichgültig, ob sie ihn entkommen ließen oder nicht.
Freilich, wenn ich an den von mir belauschten Plan dachte, der sich auf den mir leider rätselhaften Onkel und seinen Neffen bezog, wurde mir durch das wahrscheinliche Entkommen des Schriftenhändlers ein Strich durch meine Rechnung gemacht. Ich hatte gehofft, daß er bleiben und daß sich mir dadurch irgendeine Gelegenheit bieten werde, über diese beiden Personen etwas Näheres zu erfahren. An Aufmerksamkeit meinerseits hätte es sicher nicht gefehlt, und der sogenannte Zufall ist kein Zufall, sondern das Ergebnis unbekannter Umstände, die einem oft so günstig sind, daß es gar kein Fehler ist, wenn man ihn auch mit in Rechnung bringt. Wenn aber dem Prayer-man die Flucht gelang, konnte mir all mein Scharfsinn nicht das mindeste nützen, und ich mußte wahrscheinlich ganz darauf verzichten, zu erfahren, wer die Leute seien, die hinauf nach dem Finding-hole gelockt werden sollten.
Hiller war ganz glücklich darüber, daß er mit mir hatte gehen dürfen. Er fühlte sich nicht nur als Zeuge, sondern als Mitbeteiligter bei einem hochinteressanten Ereignisse, über dessen bisherigen Verlauf er sich in diesem Augenblicke allerdings nur ärgern konnte. Er wollte nicht begreifen, daß ich so zögerte, meinen Namen zu nennen, denn er sagte sich nicht, daß grad er selbst auch nur infolge des Umstandes, daß er diesen Namen kannte, nun als nicht ganz hochwillkommener Inséparable bei mir saß. Sobald es bekannt wurde, wer ich war, konnte ich mit Sicherheit darauf rechnen, in kurzer Zeit sämtliche Bewohner Westons, welche von Winnetou und mir gehört hatten, als solche inséparable Sympathievögel um mich herumzwitschern zu hören.
Es dauerte lange, sehr lange, ehe der Sheriff sich mit seinen Begleitern wieder sehen ließ. Als sie endlich kamen, war das ‚neugeborene Kind‘, ganz wie ich gedacht hatte, leider nicht dabei. Er sah den Blick, den ich auf ihn richtete, und sagte:
„Lacht nicht, Sir!“
„Lache ich denn?“ fragte ich.
„Ihr tut es, wenn auch heimlich; ich sehe es Euch an!“
„Was Ihr seht, ist nicht Humor, sondern Neugierde, Sir. Darf ich vielleicht fragen, ob der Prayer-man in sein Zimmer schlafen gegangen ist?“
„Ich verbitte mir derartige Scherze! Der Mensch ist fort, und wir sind ihm vergeblich nachgerannt bis weit vor die Stadt hinaus!“
„War er in seiner Stube, als ihr hinüberkamt?“
„Ja, aber er hatte zugeschlossen.“
„Ihr mußtet ihn doch von zwei Seiten nehmen, von der Tür und von dem Fenster aus!“
„Das haben wir dann auch getan; aber als wir unter das Fenster kamen, stand es auf, und er war herabgesprungen.“
„Ich sagte es doch: mit allen Flügeln fortgeflogen! Hat er etwas von seinen Sachen mitgenommen?“
„Nur das Gewehr. Mr. Rost ist dann mittels einer Leiter durch das Fenster eingestiegen und hat uns die Tür geöffnet. Wir untersuchten das Zimmer und fanden nichts als seinen Koffer.“
„Was war darin?“
„Fromme Schriften, der Rest von gestern.“
„Hm! Darf ich einmal hinübergehen?“
„Was wollt Ihr drüben? Haltet Ihr Euch vielleicht für scharfsinniger und findiger als einen Polizeibeamten?“
„Nein; aber es kommt vor, daß ein Mensch schließlich doch sieht, was andere Menschen nicht gesehen haben.“
„Da habt Ihr es wieder!“ fiel Watter ein. „Dieser Mr. Meier ist überzeugt, daß es keinen Menschen gebe, der es an Klugheit mit ihm aufnehmen kann. Grad diese seine eingebildete Gescheitheit befestigt meinen Verdacht. Er ist ein Dieb. Ich habe seinen falschen, hinterlistigen Augen gleich von Anfang an nicht getraut!“
Das war mir nun endlich doch zuviel. Ich stand auf, ging zu ihm hin und sagte:
„Und trotz dieser falschen Augen habt Ihr mir Eure ganze Bonanza-Brühe vorgequatscht? Mensch, ich habe mit Euch lange Geduld gehabt; nun aber ist sie zu Ende. Wenn Ihr noch ein einziges beleidigendes Wort gegen mich sagt, werfe ich Euch an die Decke, daß Ihr oben kleben bleibt!“
Da befahl mir der Sheriff:
„Keine Drohungen hier! Setzt Euch auf Euern Stuhl! Ich habe hier polizeiliche Recherchen zu führen und kann nicht dulden, daß der Bestohlene von dem des Diebstahles Verdächtigten in dieser Weise angebrüllt wird! Kommt jetzt mit hinauf! Ich werde den Schauplatz des
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