060 - Bis zum letzten Schrei
Sie die auf! Ich bin überzeugt
davon, daß Sie hier den Beweis für die Existenz eines Geistes erhalten werden.«
Sie wischte
sich mit schwacher Geste über die Stirn.
»Gerard
Tullier«, fügte Mabel Sallenger an, »ist ein zweischneidiges Schwert. Er weiß
mehr, als er zugibt. Er weiß etwas über den Mord! Aber er schweigt sich darüber
aus. Auf der einen Seite will er, daß keinem ein Haar gekrümmt wird, auf der
anderen Seite brennt es ihm auf den Nägeln, dem Geheimnis auf die Spur zu
kommen. Ein ganzes Leben hat er darauf verwendet, hat Bücher gewälzt, ist durch
die Lande gereist und hat die gesamte Burganlage bis auf den letzten Winkel
durchkämmt, und doch ist ihm der Erfolg nicht beschieden gewesen. Er hätte es
einfacher haben können. Er hätte sich schon längst an ein Medium wenden sollen.
Aber vielleicht wäre auch dann nicht unbedingt etwas von dem Geheimnis gelüftet
worden. Die Zeit muß erst reif sein. Das verfluchte Jahrhundert, wie es die
Totenfrau selbst bezeichnet hat, mußte wieder anbrechen!«
»Was wissen
Sie, Miss Sallenger? Was haben Sie gesehen, als Sie aus der Geheimtür in den
Rittersaal gelangten?« fragte Larry.
»Ich habe die
Nähe der Weißen Frau gespürt! Das war der erste Eindruck. Und dann kamen die
Bilder. In sehr schneller Reihenfolge. Und doch hat sich jedes einzelne wie mit
einem Brandeisen in meinem Hirn eingeprägt.«
Mabel
Sallengers Atem wurde schneller und flacher. Sie schloß die Augen. Ihre Lider
waren zart und durchscheinend wie japanisches Seidenpapier.
»Ich sah die
Menschen, die damals lebten. Die Comtesse, deren Mann, die beiden Kinder.
Der Tisch
stand damals genau an der gleichen Stelle wie heute, schräg vor dem Kamin.
Kerzen brannten, die Tafel war gedeckt. Die beiden Kinder saßen an der
Breitseite des Tisches. Nebeneinander…«
Ihre Stimme
wurde leise wie ein Windhauch. Doch jedes einzelne Wort blieb klar und
verständlich. Sie sprach in der Gegenwart weiter, als erlebe sie in diesen
Sekunden das ganze Drama mit.
»… die
Comtesse weicht zurück, als ihr Mann eintritt… sie steht vor dem Kamin. Der
Ritter nimmt sein Schwert und durchbohrt vor den Augen der entsetzten Frau die
beiden Kinder, die leblos zu Boden sinken… Vorwürfe des Ritters… er behauptet,
daß beide Kinder nicht von ihm, sondern von seinem Bruder stammten… die
Comtesse sinkt vor dem Kamin bewußtlos zu Boden… Ihr Gesicht liegt in der
Blutlache der beiden Kinder…«
Mabel
Sallengers Augen waren immer größer geworden, als kämen die Dinge auf sie zu.
Ein Ruck lief
durch den Körper der schmächtigen Person.
»Dann
verlöscht das Bild schlagartig, Mr. Brent! Ein junges Mädchen steht an der
Stelle, wo die Kinder starben… sie ist etwas über zwanzig Jahre alt…
dunkelhaarig… Französin… Sie kam aus dem angrenzenden Restaurant und begegnet
der Totenfrau… die Comtesse ist zurückgekehrt… in der Hand das Mordschwert
ihres Mannes… die Besucherin stirbt vor dem Kamin…«
Sie
berichtete stockend, immer wieder mit kürzeren oder längeren Unterbrechungen.
Dann ließ sie den Kopf hängen.
»Wir alle
sind für heute abend im Rittersaal zum Nachtessen eingeladen, Mr. Brent. Es
wird nichts geschehen, dafür verbürge ich mich. Ich bin aber nicht sicher, ob
uns die Totenfrau beobachten wird. Stellen Sie auch dort Ihre Instrumente auf!
Mit einem hat Tullier die Wahrheit gesagt: Die Weiße Frau geht immer dieselben
Wege. Sie sollten auch den Eingang zum Geheimstollen im Auge behalten und dort
eine Kamera aufstellen.«
»Danke für
Ihre Hinweise, Miss Sallenger. Weshalb tun Sie das alles für mich?«
»Aus reinem
Egoismus, Mr. Brent!« Sie sah ihn unverwandt an. »Durch Ihre Mithilfe können
wir der Welt die Existenz von Geistern beweisen. Und ich habe mich Ihnen
anvertraut, weil ich Sie sympathisch finde. Auch das ist ein Grund, finden Sie
nicht auch?«
●
Es war
erstaunlich, daß eine einzelne Frau in der Lage war, schnell und umfassend eine
Gesellschaft von acht Personen zu bewirten.
Marie Soiger
war mehr als eine perfekte Hausfrau.
Sie tischte
auf. Das Menü, das sie zusammengestellt hatte, war typisch französisch, aber
den amerikanischen Gästen schmeckte es.
Auf dem Tisch
war das edle, alte Porzellan aufgedeckt. Die Speisen dufteten, und die
zahlreichen Kerzen spendeten einen warmen Schein, ließen aber den Hauptteil des
Rittersaals in Finsternis getaucht. Nur der Platz vor dem Kamin selbst war hell
erleuchtet.
Man sprach
kaum ein Wort
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