060 - Bis zum letzten Schrei
war. Er merkte, wie
eine Gänsehaut über seinen Rücken zog, wie er das Bedürfnis hatte, diesen mit
einem Mal grauenvoll wirkenden Ort zu verlassen.
Doch er riß
sich zusammen.
Narrten ihn
seine Sinne? Erlebte er eine Halluzination?
Er
beobachtete und kontrollierte sich und seine Reaktionen genau. Die Dunkelheit
schien tiefer zu werden, die Schatten länger, das fahle Licht bleicher und kraftloser.
Bildete er sich das alles nur ein? War der starke Rotwein schuld daran, daß er
so dachte?
Der
Amerikaner atmete die frische Luft tief ein, kehrte dann in das Restaurant
zurück und stieg die Treppe empor, die zu den in der ersten Etage liegenden Zimmern
führte.
Dumpf hallten
seine Schritte in dem Kreuzgewölbe. Durch die alten, schmutzigen Fenster drang
kaum ein Lichtstrahl. X-RAY-3 ging an den Fensterreihen entlang. Aus einer
Nische streckte sich ihm plötzlich eine weiße, zerbrechliche Hand entgegen und
legte sich auf seinen Unterarm. Larry warf den Kopf herum. In der Fensternische
stand Mabel Sallenger. Ihr Gesicht lag in tiefem Schatten.
»Sie spüren
es auch, nicht wahr?« flüsterte das Medium. »Dazu bedarf es keiner besonderen
Sinne. Die Atmosphäre ist einfach angefüllt mit dem Bösen. Es lauert überall,
es scheint aus den Wänden zu kriechen, nach einem zu greifen…« Ihre Stimme war
nur ein Hauch.
»Was ist es,
Miss Sallenger?« fragte Larry.
»Ich weiß es
nicht. Aber ich habe eine Ahnung, eine Vermutung. Diese Stimmung wird nicht
allein dadurch hervorgerufen, daß in diesen Gemäuern der Geist der Totenfrau zu
Hause ist, daß er in diesen Tagen, da sich das furchtbare Ereignis jährt,
besonders aktiv ist. Die sechsfache Mörderin stand zu ihren Lebzeiten in Verbindung
mit finsteren jenseitigen Mächten, die in grauer Vorzeit die Erde beherrschten
und von denen wir Heutigen nicht mal eine Vorstellung haben, daß es sie
überhaupt gab. Denken wir an die Mystik vergangener Jahrtausende, an den
Götter- und Dämonenglauben. Es ist von Büchern die Rede, die es aus jener Zeit
geben soll, die jedoch nur vereinzelt in menschlichen Besitz gelangten. Wer sie
besaß, war dem Unheil verfallen. Er besaß Macht über den Tod hinaus, aber seine
Seele mußte für alle Ewigkeit ruhelos umherwandern.«
»Sie
vermuten, daß die einstige Burgherrin in den Besitz eines solchen Buches mit
magischen Formeln gelangt war?«
»Ja! Die
Stelle, wo heute die Burg steht, muß einst ein unheiliger Ort der Dämonen und
Zauberer gewesen sein.«
Sie hielt den
Atem an. Ihr Blick ging an Larry vorbei.
»Mr. Brent«,
wisperte sie. »An der Wand gegenüber, so sehen Sie doch!« Larry folgte ihrem
Blick. Er sah, wie sich eines der alten Bilder mit dem schweren Goldrahmen an
der Aufhängung bewegte, als würde es eine unsichtbare Hand langsam auf die
Seite drücken.
Das Bild hing
minutenlang völlig schräg, ehe es, leise an der rauhen Wand schabend, wieder in
seinen ursprünglichen Zustand zurückfiel.
Larry löste
sich von Mabel Sallenger und untersuchte die betreffende Stelle an der Wand,
ohne einen sichtbaren Grund für die seltsame Eigenbewegung des Bildes zu
finden. Es war ein Blumenstück mit prachtvollen, großen Blüten in einer ebenso
prachtvollen und reichverzierten Vase.
»Kräfte, von
denen ich sprach«, machte sich Mabel Sallenger bemerkbar. Sie löste sich aus
dem Schatten der Nische. Larry erkannte, daß sie ein langes, dunkles Gewand
trug, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Sie sah darin aus wie ein Strich in
der Landschaft.
»Es war nicht
die Weiße Frau, aber es waren Kräfte, die sie auszusenden imstande ist.
Telekinetische, elektromagnetische Kräfte, wie sie in jedem Menschen schlummern
und wie sie von jedem von uns zurückbleiben werden, wenn unser Körper mal nicht
mehr ist. Doch nur in den seltensten Fällen werden diese Kräfte nach dem
Ableben bei einzelnen Personen aktiv. Dann haben wir es mit Spukerscheinungen
zu tun. Und es müssen eine ganze Reihe anderer Faktoren hinzukommen, daß Dinge
geschehen können, wie sie hier offensichtlich geschehen sind!« Sie schritt auf
die Tür zu. In der Dunkelheit sah es aus, als würden ihre kleinen Füße über dem
Boden schweben.
»Ich habe
bisher geglaubt, viel von außergewöhnlichen Fällen zu verstehen, Miss Sallenger«,
meinte X-RAY-3. »Aber durch die Begegnung mit Ihnen bin ich eines Besseren belehrt
worden. Man lernt nie aus! Der abgedroschene Spruch davon, daß es mehr Dinge
zwischen Himmel und Erde gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen
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