060 - Trip in die Unterwelt
neben dem Geräusch der Wellen, der Schritte und des Sturms hinter der Wand auch ein lang gezogenes Stöhnen zu hören.
»Bannkreis? Gesetze? Das alles ist doch Wahnsinn!«, sagte ich laut und stürzte den letzten Whiskey hinunter.
George kicherte dämonisch und erwiderte trocken: »Wahnsinn oder nicht. Diese unbekannte Welt und ihre grausamen Gesetze existieren seit Ewigkeiten. Sie und ich, wir können versuchen, uns dagegen zu wehren, aber letzten Endes werden wir immer wieder verlieren. Nehmen Sie's hin! Und jetzt sollten Sie versuchen, einzuschlafen. Hier sind Sie in Sicherheit, scrittore.«
»Können Sie mir helfen, aus diesem Irrsinn herauszukommen?«, fragte ich unsicher.
Er hob die Schultern. Plötzlich sah er aus wie ein alter Geier, der das Opfer vor sich sieht.
»Ich will sehen. Ich bekomme heute Abend Besuch von einer Person, die eine Menge Einfluss hat. Ich werde intervenieren. Vielleicht kann ich etwas für Sie tun. Aber warten wir ab!«
Die Schritte waren verstummt. Für einen Augenblick schwiegen auch die Wellen, und der Sturm ließ nach. Deutlich hörte ich jenseits der Wand einen leisen Schrei, der in ein gurgelndes Stöhnen überging.
Ich deutete auf die Wand und fragte leise: »Was hat das zu bedeuten?«
Wir beide hatten die gequälten Laute deutlich hören müssen. Es konnte keinen Zweifel geben.
Fragend zog George die buschigen, weißen Brauen hoch. Er stellte sich offensichtlich dumm. Konnte ich denn niemandem mehr trauen? War jeder hier verrückt geworden – einschließlich mir?
»Was meinen Sie?«, erkundigte er sich leicht verlegen.
»Dieses Schreien in der Kabine. Haben Sie es denn nicht gehört?«
»Nur undeutlich.«
Auch diese schöne weiße Jacht schien in den Kreis des Spuks geraten zu sein. Alle Welt war verrückt geworden. Oder litt ich ernsthaft an Verfolgungswahn? Träumte ich … oder war ich im Begriff, überzuschnappen?
»Dort ist jemand, der schreit und stöhnt. Da! Sie müssen es hören, George?«
Er nickte langsam und erklärte unwillig, aber mit fast drohendem Unterton: »Ein armes Opfer der Seekrankheit. Er leidet grässlich – glauben Sie mir. Er kann nicht einmal den Anblick unseres Kochs ertragen, wenn dieser ihm den dünnen Tee bringt. Er will und darf auf keinen Fall gestört werden. Bitte, zügeln Sie Ihre berufsmäßige Neugierde, ja? Tun Sie ihm und mir diesen Gefallen, Arnold!«
»Natürlich«, sagte ich und stand auf. »Zeigen Sie mir jetzt die Kabine? Ich glaube, ich verstehe die Welt nicht mehr.«
Ich hörte seine Antwort, aber erst später verstand ich sie richtig.
Er sagte leise und ziemlich undeutlich: »Mir ging es das erste Mal auch nicht anders.«
Ich folgte ihm aus dem Zentralraum einen schmalen Gang entlang nach vorn. George öffnete eine schmale Tür, und ich sah in eine kleine Kabine, in der zwei Betten übereinander standen und ein Tisch vor dem Bullauge. Eine weitere Tür führte in die Toilette. Wir verabschiedeten uns, und ich warf mich auf die untere Liege, nachdem ich mich ausgezogen hatte.
Ich zwang mich gewaltsam zur Ruhe. Langsam ließ ich die Ereignisse noch mal an mir vorüberziehen und versuchte, einen Sinn hinter allem zu erkennen. Mein Blick wanderte hinüber zu den schmutzigen Jeans, in deren einer Tasche noch immer die golfballgroßen Kristalle steckten. Alle Menschen, mit denen sich mein Albtraum nach und nach bevölkert hatte, waren anders gewesen; nicht normal; irgendwie geheimnisvoll, verrückt. Sogar die blinde junge Frau mit dem schönen Gesicht und dem einmaligen Körper; und auch der Mann, den ich als besonnen und welterfahren kennen gelernt hatte, der Besitzer des Schiffes Colombo. Keiner von ihnen hatte sich natürlich oder vernünftig verhalten.
Ich schlief ein, ohne zu wissen, was eigentlich wirklich passiert war.
Der Sturm hatte, wie meist am Abend, zugenommen. Schäumende Wellen schlugen gegen das Schiff. Die Jacht hob und senkte sich. Ein Blick auf die Uhr: es war kurz nach fünf.
Ich rollte mich auf den Bauch und schaute zum Bullauge hinaus. Der Himmel war wolkenlos. Es regnete also nicht mehr. Drüben am Kriegerdenkmal sah ich, wie die Wellen der aufschäumenden Brandung sich an einer der großen Höhlen brachen.
Es dämmerte; die Sonne war hinter den Bergen der Insel Caprera verschwunden. Die Berge mit den gezackten und ausgewaschenen Formen hoben sich als geheimnisvolle Kulisse gegen den hellen Himmel ab.
Ich stand auf und hatte das dringende Bedürfnis nach einer Dusche. Die Kabine war
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