0603 - Nächte des Schreckens
drehte sich alles. Sie hatte das Gefühl, noch nie zuvor in ihrem Leben solche Angst gehabt zu haben.
Sie wartete mit klopfendem Herzen, bis das dumpfe Stampfen der Schritte auf dem Flur nicht mehr zu hören war. Dann atmete sie tief durch und öffnete die Lider wieder…
Um die Augen im nächsten Moment vor Entsetzen weit aufzureißen!
Denn sie war nicht allein im Zimmer.
Jemand war bei ihr!
Ein Mann. Er trug einen schwarzen Anzug mit einem weiten schwarzen Umhang, dessen samtenes Innenfutter rot wie Blut war. Sein dunkles Haar war streng zurückgekämmt. In seinen Augen glomm ein unirdisches Feuer.
Und als er die junge Frau spöttisch anlächelte, entblößte er zwei lange, elfenbeinfarbene Eckzähne!
Ein gequältes Stöhnen entrang sich Cindys Kehle.
Sie kannte diesen Mann.
Sie kannte ihn gut.
Er hatte sie in ihren Alpträumen besucht, als sie noch jung gewesen war. Immer wieder. Beinahe jede Nacht war er in ihren Träumen zu ihr gekommen, um sie zu ängstigen. Bis sie alt genug war, um zu begreifen, daß es keinen Grund gab, sich vor ihm zu fürchten. Weil es diesen Mann nicht wirklich gab.
Ihr großer Bruder hatte sich immer diese schrecklichen alten Horror-Filme angesehen. ›Dracula‹, ›Der Fluch der Mumie‹, ›Frankensteins Braut‹. Und sie hatte immer heimlich mitgeguckt, obwohl ihre Eltern das nicht erlaubten. Und nachts hatte sie dann Alpträume davon bekommen.
Aber es gab diese schrecklichen Monster nicht wirklich. Es waren nur Phantasieprodukte.
Keine Realität.
Jedes Kind wußte, daß es sie nicht gab.
Dennoch fühlten sich die langen Finger des Grafen Dracula schrecklich wirklich an, als er plötzlich die Hand nach der jungen Studentin ausstreckte. Er packte sie brutal am Arm, zog sie zu sich, um sich dann über sie zu beugen und ihr seine langen Eckzähne in den weißen, weichen Hals zu schlagen…
***
Cindy Warner schrie entsetzt auf, als sich Dracula mit einem aggressiven Zischen auf sie warf.
Ihr Verstand wirbelte durcheinander. Sie war unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.
Alles, was sie begriff, war, daß sie Unrecht gehabt hatte, als sie den Herrn der Vampire ins Reich der Phantasie verbannte. Als sie ihn als simplen Kinderschreck abtat, den man bloß erfunden hatte, um unartige kleine Mädchen zu ängstigen.
Denn Graf Dracula war keine Fiktion.
Er war Realität.
Grausame Realität…
Dieser Gedanke drang hervor aus den wirbelnden Tiefes ihres Hirns bis in ihr bewußtes Denken. Da verlor sie beinahe den Verstand. Plötzlich drehte sich alles um sie herum.
Schreiend stieß sie den Vampir von sich, versetzte ihm einen Tritt in die Magengrube.
Wütend fauchend wich Dracula zwei Schritte zurück.
Cindy nutzte die Gelegenheit, wirbelte herum. Sie riß die Tür auf und stürmte aus dem Zimmer. Panisch lief sie den Korridor entlang, während sie hörte, wie Dracula hinter ihr die Verfolgung aufnahm.
Bis zur Treppe waren es knapp dreißig Meter. Wenn es ihr gelang, Derleth, Zamorra und ihre Kommilitonen zu erreichen, hatte sie nichts mehr zu befürchten. Der Graf würde es nicht wagen, so viele Menschen auf einmal anzugreifen. Nicht einmal er würde das wagen!
Mit rasendem Herzen lief sie auf die Treppe zu. Aus den Augenwinkeln heraus erkannte sie, daß der Graf bloß ein paar Meter hinter ihr war. Das Flattern seines Umhangs lag drohend in der stickigen Luft.
Cindy rannte so schnell wie noch niemals zuvor in ihrem Leben. Mit großen, ausgreifenden Sätzen hastete sie auf die Treppe zu, die ihr Kettung versprach.
Überleben.
Das war alles, was sie wollte.
Überleben.
Die Treppe kam näher.
Noch zwanzig Meter.
Fünfzehn Meter.
Zehn…
Dann hatte sie die Treppe erreicht. Ihre Hände krampften sich um die Brüstung. Sie wollte die Stufen nach unten rennen.
Doch praktisch in der letzten Sekunde erkannte Cindy, daß der Durchgang in den ersten Stock versperrt war.
Jemand schlurfte die Treppe hinauf.
Staubige, rissige Bandagen schleiften über die Stufen.
Wie ein Relikt aus einer lange vergangenen Zeit schleppte sich die Mumie, nach Tod und Verwesung stinkend, die Treppe hoch!
Das Gesicht unter den vermoderten Stoffschichten war eine Fratze aus Knochen und verrottetem Fleisch, die Arme waren gierig nach Cindy ausgestreckt.
Die Studentin stieß einen schrillen Schrei aus. Sie sprang hastig zurück, bevor die Mumie sie erreichte.
Mit wehenden Haaren wirbelte sie herum und rannte den Gang in die andere Richtung hinab. Weg von diesem
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