0604 - Das steinerne Volk
Herrenhaus?« fragte Lafayette erstaunt.
»Zu Fuß etwa eine Viertelstunde von der Straße weg«, erklärte Zamorra.
»Da gibt’s kein Herrenhaus.«
»Auch nicht früher?« fragte Zamorra schnell.
»Nein. Wieso? Da war nie eins. Ich müßte das wissen. Meine Familie lebt hier seit wenigstens dreihundert Jahren. Soll ich euch nun mitnehmen oder nicht?«
»Ja«, bat Nicole.
»Aber nicht zu dem Maskenfest«, warf Zamorra ein. »Wir brauchen ein Hotelzimmer.«
»Auch gut«, brummte Lafayette. »Steigt ein. Wenn ihr nicht feiern wollt, weshalb seid ihr dann überhaupt hier, und wieso zu Fuß?«
»Der Trucker, der uns mitnahm, nahm an der letzten Kreuzung eine andere Richtung«, schwindelte Zamorra. »Gibt es hier viele Fußgänger?«
»Wenn solche Feste gefeiert werden, immer. Wir führen nämlich jede Menge Verkehrskontrollen durch. Alkohol und so. Irgendwer schmuggelt nämlich immer Spirituosen, und betrunkene Autofahrer mögen wir erst recht nicht.«
»Schmuggelt?«
Lafayette lachte auf. »Ihr müßt wirklich von weit her kommen. Wißt ihr nicht, daß in South Carolina Alkoholverbot herrscht?«
»Immer noch? Ich dachte, die Prohibition sei seit Al Capone vorbei!« entfuhr es Nicole. Dabei dachte sie an den Champagner in ihrem Gästezimmer. War das etwa kein Alkohol gewesen?
Der Deputy antwortete nicht, sondern stieg in den Ford LTD.
Zamorra kletterte auf die Rückbank und gab Nicole einen Wink, sich nach vorn zu setzen. Das hatte seinen Grund.
Garantiert waren die Kindersicherungen in den hinteren Türen eingeschaltet, die Türen konnten also nur von außen geöffnet werden. Und Zamorra wollte sich nicht einsperren lassen…
Zamorras Mißtrauen war geblieben. Rasch machte er die Probe aufs Exempel, die Tür ließ sich tatsächlich nicht von innen öffnen, und der elektrische Fensterheber war blockiert und ließ sich wohl nur von vorn betätigen, also keine Chance, das Fenster zu öffnen und den äußeren Türgriff zu betätigen.
Ein wenig überrascht war Zamorra schon darüber, daß ein sicher mehr als fünfzehn Jahre alter Wagen über die Möglichkeit verfügte, die Fensterheber im Fond abzuschalten.
Eine derartige Kindersicherung gab es eher in deutschen Nobel-Limousinen jüngeren Baujahrs, nicht aber in amerikanischen Brot- und Butter-Autos wie diesem alten Polizeifahrzeug.
Sie fuhren los.
Nach etwa fünf oder sechs Kilometern tauchten Häuser am Straßenrand auf und ein großes Schild, das Besucher in der Ortschaft Union willkommen hieß. Es wies auch stolz auf die etwas über 30.000 Einwohner sowie andere Sehenswürdigkeiten hin.
Noch stolzer wies Lafayette darauf hin, daß die Quote der Arbeitslosen von weit über fünfzig auf etwa ein Prozent gesunken war, seit im etwa 30 Kilometer entfernten Spartanburg das BMW-Werk gebaut worden war, in dem die James-Bond-Autos produziert wurden, wie der Deputy sich ausdrückte - die schnellen offenen Zweisitzer, die durch den Bond-Film ›Goldeneye‹ fast so populär geworden waren wie Tina Turners Titelsong.
»James Bond fuhr Bentley«, protestierte Nicole stirnrunzelnd. »Zumindest in den ursprünglichen Romanen von Ian Fleming. Daß sie 007 in den Filmen einen Aston Martin und später andere Sportwagen gegeben haben, das ist ein Sakrileg!«
»Der Typ mit dem Bentley ist John Sinclair«, korrigierte Zamorra. »Wenigstens früher hat er so was gefahren. Jetzt nur noch einen billigen Rover… welch sozialer Abstieg!«
»Auch Bond fuhr Bentley«, beharrte Nicole. »Ich weiß das! Ich habe die Bücher damals regelrecht verschlungen, als ich noch jung und schön war.«
»Damals? Dann hast du dich aber verdammt gut gehalten, Lady«, warf Lafayette ein. »Da drüben - da ist das beste Hotel am Platz. Wollt ihr wirklich nicht zu dem Maskenfest?«
»Nein. Danke fürs Mitnehmen«, sagte Zamorra aus dem Fond und berührte Nicoles Schulter auf eine Weise, die ihr signalisierte, sie solle ganz kurz nach seinen Gedanken tasten, dann öffnete er seine mentale Abschirmung und wies sie darauf hin, daß er die Fondtüren nicht von innen öffnen konnte.
Nicole stieg aus und half ihm ins Freie.
»Schade«, bemerkte der Deputy.
***
Im Hotelzimmer angekommen, erklärte Nicole sofort:
»Lafayettes Gedanken konnte ich auch nicht lesen!«
»Aber meine, als ich sie dir öffnete?«
»Natürlich.«
Zamorra warf sich rücklings auf das Doppelbett. »Kannst du dir vorstellen, daß jemand meine oder deine Gedanken liest, ohne daß einer von uns die mentale Sperre
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