0604 - Das steinerne Volk
geht’s uns an den Kragen.«
Zamorra war an die Statue herangetreten. Sie besaß, wie auch alle anderen, keinen Sockel, sondern stand nur so im Gras.
Menschengroß, und sie war mit unglaublicher Detailtreue gemeißelt. Hier mußte ein begnadeter Künstler am Werk gewesen sein.
»Selbst die Bekleidung ist perfekt und bis zur letzten Falte nachgebildet«, stellte Zamorra fest.
»Ziemlich moderne Kleidung«, meinte Nicole. »Und das bei all diesen Statuen.«
»Die da drüben ist ›nackt‹«, sagte Zamorra und ging zu einer Frauenstatue hinüber. »Und da hinten, die zwei - ebenfalls.«
Nicole sah zu den beiden Figuren hinüber. »Fesche Jungs«, stellte sie fest. »Schade, daß sie nicht aus Fleisch und Blut sind.«
»Würde man diese Figuren bemalen, dann könnte man meinen, im Park wimmelte es von Menschen«, überlegte Zamorra. »Von lebenden Menschen. Es sieht aus, als wären sie mitten in der Bewegung erstarrt, als wären sie versteinert worden…«
»Ja«, sagte Nicole gedehnt. »Denkst du, was ich denke?«
»Medusa? Das wäre absurd!« entfuhr es Zamorra. »Die Gorgonen existieren schon lange nicht mehr.«
Immerhin hatte er sie selbst erschlagen, Medusa und ihre beiden Schwestern. Nacheinander, in haarsträubenden Abenteuern. Jene Frauengestalten der griechischen Sage, auf deren Köpfen Schlangen wimmelten anstelle von Haaren, und deren Anblick jeden Menschen zu Stein werden ließ.
»Heißt es nicht, die Gorgo Medusa sei schon anno Piependeckel von Perseus gekillt worden? Der gute Junge näherte sich ihr rückwärts und blickte in einen spiegelnden Schild, der die magische Kraft der Medusa nicht auf ihn übertrug…«
»Und dann hat er sie in den Spiegel blicken lassen, worauf sie selbst versteinerte«, ergänzte Zamorra.
»Richtig. Und trotzdem hattest du vor ein paar Jahren wieder mit ihr zu tun, obgleich sie eigentlich hätte tot sein müssen. Vielleicht ist sie erneut von den Untoten auferstanden. Aller schlechten Dinge sind drei.«
»Und du meinst, sie hätte sich hier eingenistet und all diese Menschen zu Stein werden lassen? Ausgerechnet in South Carolina?«
»Hier rechnet doch keiner mit ihr. Wer sucht griechische Unterweltler in Amerika? Und diese Figuren - wenn sie nicht die Opfer der Medusa oder der beiden anderen Gorgonen sind, dann muß der Steinmetz, der sie geschaffen hat, einen geistigen Lattenschuß haben. Oder sein Auftraggeber. Wer stellt sich eine Sammlung von Statuen in den Garten, die aussehen wie Menschen auf einer belebten Straße?«
Klassische Posen waren es jedenfalls nicht, welche die Figuren zeigten, und auch keine Gewandung aus der klassischen Kunst!
»Fluch der Moderne. Wenn Michelangelo heute leben würde, würde er vermutlich genau das hier schaffen«, mutmaßte Zamorra.
»Dann haben wir es also mit einem reinkarnierten Michelangelo zu tun? Danke, nicht mein Fall. Ich mag seine Kunst, aber ich lege keinen Wert auf eine Begegnung. Verschwinden wir lieber, solange wir es noch können.«
»Erst möchte ich noch schauen, wie es auf der anderen Seite des Hauses aussieht«, beschloß Zamorra.
»Du willst dich durchs Gestrüpp schlagen wie der Prinz durch die Dornenhecke, weil er Dornrößchen küssen wollte?«
»Wenn ich jemanden küssen will, habe ich’s einfacher«, schmunzelte Zamorra.
»Laß es uns verschieben, bis wir in Sicherheit sind.«
»Versprochen?«
»Versprochen!«
Sie betraten wieder das Haus, suchten ihr Gästezimmer auf, in dem sich nichts verändert hatte.
»Wir sollten nur das mitnehmen, was wir wirklich benötigen«, sagte Zamorra. »Die kompletten Koffer möchte ich nicht mitschleppen, wenn wir von hier verschwinden. Die können wir später immer noch holen.«
Er trat zum Fenster. Es lag zu der verandaabgewandten Seite des Hauses - zumindest, wenn die Architektur hier wenigstens ansatzweise stimmte.
Aber ein Blick nach draußen belehrte ihn eines Besseren. Er sah wieder den Park mit den Statuen, sogar ein Kotflügel des Cadillac war von hier aus noch zu erblicken.
Zamorra probierte es von einigen anderen Zimmern aus, deren Türen nicht wie die von Walkers Zimmer abgeschlossen waren.
Stets das gleiche Bild: der Statuenpark!
Es war, als habe das Haus nur eine Seite.
Auch die Berührung des Fensterglases mit dem Amulett bewirkte nichts. Der Versuch, einige der Fenster zu öffnen, blieb erfolglos. Die Griffe und Riegel ließen sich zwar bewegen, aber die Fenster öffneten sich nicht!
»Verschwinden wir!« beschloß Zamorra
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