0610 - Die Macht der Schlange
denen sie es in den letzten zehn Jahren zu tun gehabt hatte, hatten ihr Geschenke gemacht.
Nicht mal Blumen. Allenfalls hatte einer mal eine Flasche Wein mitgebracht, die dann gemeinsam getrunken wurde. Aber das war ja kaum als Geschenk anzusehen.
Und jetzt kam sie von ihrer Halbtags-Stelle heim, um es sich vor dem Fernseher gemütlich zu machen und ihre Lieblings-Talkshow zu sehen, da stand direkt vor dem Haus ein wenig vertrauenerweckend aussehender Typ, bei dessen Anb lick sie sich zunächst nach einem Streifenpolizisten umsah. Aber die waren ja nie da, wenn man sie brauchte. Doch der Mann war ganz höflich. Und er schenkte ihr auch etwas, einfach so.
Eine seltsame Kunstfigur, die eine Schlange zeigte, die sich um einen halbierten Totenschädel krümmte.
Aber wie eine Schlange sah das Ding eigentlich gar nicht aus.
Bevor sie den Mann fragen konnte, warum er das tat, war er schon wieder verschwunden. So, als habe er sich in Luft aufgelöst. Mary-Ann Cantor fuhr mit dem Lift zu ihrer Wohnung im 17. Stock hinauf. Sie betrachtete das kleine Kunstwerk, das handgefertigt und ein einmaliges Einzelstück sein sollte. Es war abgrundtief häßlich.
Gekauft hätte sie sich so etwas niemals - nicht mal, um damit eine potentielle böse Schwiegermutter oder den nächsten republikanischen Präsidentschaftskandidaten zu erschrecken.
Oben im Hausflur blieb sie vor dem Abfallschacht stehen.
Sie hatte für das seltsame Kunstwerk nichts bezahlt. Und sie wollte es eigentlich gar nicht haben, nur war der Inder zu schnell fort gewesen, als daß sie es ihm hätte zurückgeben können.
»Hm«, murmelte sie im Selbstgespräch. »Hoffentlich ist in dem verflixten Ding kein Rauschgift versteckt, und der Typ hat mich zum Kurier gemacht, ohne daß ich’s weiß.«
Gerade im südlichen Florida, hier in Miami, mußte man mit so etwas rechnen. Sie öffnete die Klappe des Abfallschachtes und wollte die Drachenschlange hineinwerfen.
Aber sie paßte nicht. Wie Mary-Ann die Figur auch drehte und kantete, immer war ein halber Zentimeter zuviel.
Seufzend gab sie auf und stellte das verflixte Ding einfach auf den Boden. Dann schloß sie ihre Wohnungstür auf.
Mrs. Broweston von gegenüber kam zur Tür heraus. Die alte Schreckschraube schien ständig hinter dem Türspion zu lauern und alles und jeden zu vermerken, der sich auf dem Korridor bewegte.
»Sie, Miss Cantor, das können Sie aber nicht da stehenlassen!« erklärte sie mit ihrer schrillen Fistelstimme. »Hier spielen auch Kinder, und wenn die so etwas Schreckliches sehen… Außerdem könnte man es Ihnen stehlen.«
Ach, das wäre doch schön, dachte Mary-Ann.
Natürlich, die Kinder. Mrs. Broweston ermunterte die Kinder aus dem gesamten Haus regelrecht dazu, in den Hausfluren zu spielen, mit ihren Rollerblades zu fahren und dabei wild und laut herumzubolzen.
»Sie haben ja keinen richtigen Spielplatz, wo sie sich austoben können«, pflegte sie dann ständig zu sagen.
Okay, Mary-Ann war alles andere als kinderfeindlich, aber wie nahezu alle Nachbarn war sie der Meinung, daß man es auch gewaltig übertreiben konnte und daß doch der Teufel Mrs. Broweston holen sollte.
Aber der hatte sicher gute Gründe, genau das nicht zu tun…
»Warum nehmen Sie diese häßliche Nippesfigur nicht gleich mit in Ihre Wohnung? Sie haben doch die Hände frei!« fuhr der Hausdrache derweil grimmig fort.
Seufzend nahm Mary-Ann die Figur wieder auf, überlegte, ob es sinnvoll sei, sie Mrs. Broweston an den Kopf zu werfen - aber eher zerschellte wohl die Drachenschlange an dem Schlangendrachen.
»Wissen Sie was, Browie? Sie können mich mal!« fauchte sie Mrs. Broweston an und knallte die Wohnungstür von innen zu.
Draußen ertönte eine Zornesarie der beleidigten Dame, die es nicht ausstehen konnte, wenn Mary-Ann sie Browie nannte.
Verdrossen betrachtete Mary-Ann die Figur.
Verstecktes Rauschgift im Innern? Dann würde vielleicht bald jemand auftauchen, der dieses abscheuliche Kunstwerk an sich bringen wollte..
Aber für solche Fälle war Mary-Ann gerüstet. Sie besaß eine Pistole, und sie war auch bereit, die sofort einzusetzen, wenn sie sich bedroht fühlte. Gerade in dieser Stadt mit ihrer hohen Kriminalitätsrate.
Na schön - sie ließ die Figur fallen, um zu sehen, was sie dann zwischen den Scherben finden würde. Aber außer, daß es laut polterte und Augenblicke später jemand von unten mit dem Besenstiel gegen die Decke zurückhämmerte, passierte nichts. Die Figur erwies sich als
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