0610 - Die Macht der Schlange
Inder. Er trug bunte Kleidung, einen knallroten Turban, und er verneigte sich leicht, wobei er die Handflächen vor seiner Brust gegeneinander legte.
»Seien Sie willkommen. Bitte, schauen Sie sich gern noch weiter in meinem besche idenen Geschäft um. Oder haben Sie bereits etwas gefunden? Haben Sie besondere Wünsche? Ich mühe mich redlich, keinen Wunsch unerfüllt zu lassen, und -«, er musterte die alte Lady, »- es wird Sie auch gewiß nicht Ihre gesamten Ersparnisse kosten. Keines der Teile, die ich feilbiete, kostet mehr als hundert Dollar, die meisten sehr viel weniger.«
»Seit wann haben Sie diesen Laden, Sir?« fragte ihn Helen.
»Gestern habe ich ihn noch nicht gesehen.«
»Ich war schon immer hier, Memsahib«, versicherte der Inder und verneigte sich abermals.
Sie schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein«, sagte sie. »Ich bin absolut sicher.«
»Wenn Sie meinen, Memsahib.«
Der Inder lächelte.
»Kann ich Ihnen trotzdem behilflich sein?«
Er sah, wie sie die Hand nach der Drachenschlange ausstreckte.
So scheußlich sie war, sie hatte doch etwas an sich, das Helen faszinierte.
Sie verstand sich in diesem Moment selbst nicht - welchen vernünftigen Grund konnte es geben, sich ausgerechnet dafür zu interessieren?
Sekundenlang verhärtete sich der Gesichtsausdruck des Inders.
»Oh, verzeihen Sie vielmals, Memsahib«, sagte er dann.
»Aber ausgerechnet dieses Objekt kann ich Ihnen nicht verkaufen. Es ist nur ein Ausstellungsstück. Aber wenn Sie etwas Ähnliches erstehen möchten…«
»Nein!« sagte sie schroff. »Und ich glaube Ihnen kein Wort!«
Sie wandte sich um.
»Sie haben«, erinnerte sie sich, »keinen Namen an Ihrem Reklameschild stehen. Und Sie waren ganz bestimmt nicht immer hier. Ich werde die Polizei benachrichtigen!«
»Wie Sie wünschen, Memsahib«, raunte der Inder und verneigte sich erneut.
Als Helen hinausging, trat gleichzeitig ein Mann ein, ein junger, südländisch wirkender Bursche von vielleicht zwanzig Jahren.
»Passen Sie auf, fragen Sie den Kerl nach seinem Gewerbeschein«, riet ihm Helen. »Wahrscheinlich hat er nicht mal eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Green Card.«
Verwundert sah der neue Kunde ihr nach, während sie davonging. Nach ein paar Dutzend Metern blieb Helen aber wieder stehen. Dieser ganze Laden kam ihr sehr merkwürdig vor. Sie erinnerte sich an Spukgeschichten von Häusern oder Menschen, die in Wirklichkeit gar nicht existierten, und unwillkürlich drehte sie sich um und rechnete schon fest damit, das Schild ›World Arts‹ schon nicht mehr zu sehen, sondern dafür das des ursprünglichen Geschäftes, dessen Name ihr immer noch partout nicht einfallen wollte.
Aber nichts hatte sich geändert.
Statt dessen trat der junge Mann wieder nach draußen.
In der Hand hielt er - unverpackt - die schreckliche Drachenschlangenskulptur.
Verblüfft setzte Helen sich in Bewegung und ging dem Mann entgegen, der in ihre Richtung schlenderte.
»Mir hat er vorgelogen, die Figur sei unverkäuflich«, sagte sie unvermittelt.
Der Mann stutzte. »Bitte?«
»Der Inder. Er sagte, die Figur sei unverkäuflich«, wiederholte sie. »Und Ihnen hat er sie verkauft?«
»Nein. Er hat sie mir geschenkt!«
Der Mann zuckte mit den Schultern und ging weiter, jetzt wesentlich schneller als zuvor. Es war klar, er wollte einem Gespräch mit dieser sonderbaren alten Schachtel aus dem Weg gehen. Helen schüttelte den Kopf, dann aber ging sie noch einmal zurück zum Laden. Aber gerade, als sie ihn erreichte, schloß der Inder die Glastür von innen ab, lächelte Helen O’Rowe dabei freundlich zu und hängte ein Schild auf.
›Vorübergehend geschlossen - bin in ein paar Minuten wieder da.‹
Dann huschte er in das Chaos seines Ladens zurück und verschwand aus ihrer Sicht. Aber dort, wo vorhin die Drachenschlange gestanden hatte - da stand sie jetzt ja wieder!
Oder ein identisches Duplikat?
»Dem schenkt er sie, und mir wollte er sie nicht mal verkaufen«, murmelte Helen kopfschüttelnd. »Das soll mal einer verstehen!«
Daß sie zu alt war, darauf kam sie nicht…
***
Es war sicher schon eine Ewigkeit her, daß jemand Mary-Ann Cantor etwas geschenkt hatte. Damals war sie noch ein Kind gewesen.
Seither mußte sie sich selbst durchs Leben beißen.
Alles, was sie besaß, hatte sie sich hart erarbeitet. Vom Bleistiftanspitzer über das Auto bis hin zur Apartmentwohnung in einem der Hochhäuser in der East 4th Avenue in Hialeah.
Nicht einmal die Männer, mit
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