062 - John Flack
Nachkur hierher kommen‹? Das heißt, sie ist krank . . . Ich kann aus Larmes Keep kein Sanatorium machen. Sie können all den Leuten schreiben, daß bis nach Weihnachten alles besetzt ist. Nach Weihnachten können sie kommen - ich verreise dann.«
Die Abende gehörten ihr. Sie konnte, wenn sie wollte, nach Siltbury gehen, das mit Stolz zwei Kinos aufzuweisen hatte, und Mr. Daver stellte ihr das Auto für diesen Zweck zur Verfügung. Sie zog es aber vor, durch das Gelände zu wandern. Das Besitztum war viel größer, als sie angenommen hatte. Auf der Südseite des Hauses dehnte es sich eine halbe Meile weit aus. Die Grenze nach Osten bildeten die Klippen, an denen entlang eine Mauer aus Feldsteinen in Brusthöhe errichtet war.
Und das aus sehr gutem Grunde, denn die Klippen fielen hier senkrecht siebzig Meter auf die darunterliegenden Felsen ab. An einer Stelle hatte ein kleiner Erdrutsch stattgefunden, hatte den Wall mit fortgerissen, und man hatte die Lücke durch einen provisorischen Holzzaun geschlossen. Der Versuch war gemacht worden, einen Neun-Loch-Golfplatz einzurichten, aber anscheinend war Mr. Daver dieser Sache überdrüssig geworden, denn das Gelände stand kniehoch unter wogendem Gras. An der Südwestecke des Hauses, ungefähr hundert Meter entfernt, befand sich ein dichtes Rhododendrongebüsch, in das sie eindrang. Sie folgte einem kleinen gewundenen Pfad, der sie bis in die Mitte des Gehölzes führte. Ganz unerwartet kam sie an einen alten Ziehbrunnen. Das Mauerwerk lag in Trümmern; der Brunnenschacht war mit Brettern zugedeckt. An dem vom Wetter mitgenommenen Schutzdach über der Winde hing eine kleine hölzerne Tafel - augenscheinlich als Aufklärung für die Besucher:
Dieser Brunnen wurde von 935 bis 1794 benutzt. Er wurde von den gegenwärtigen Besitzern des Grundstücks im Mai 1914 aufgefüllt. Für diesen Zweck sind einhundertfünfunddreißig Wagenladungen Sand und Steine gebraucht worden.
Für Margaret war es ein angenehmer Zeitvertreib, an diesem alten Brunnen zu stehen und sich die barfüßigen Bauern vorzustellen, die Jahrhunderte hindurch an der Stelle gestanden hatten, wo sie sich jetzt befand. Als sie aus dem Gebüsch heraustrat, stieß sie auf Olga Crewe, das Mädchen mit dem blassen Gesicht. Margaret hatte bisher weder mit dem Pastor noch mit dem Oberst gesprochen. Olga Crewe hatte sie nicht mehr gesehen, und sie würde ihr auch jetzt aus dem Weg gegangen sein, wenn das junge Mädchen nicht zu ihr herübergekommen wäre.
»Sie sind die neue Sekretärin, nicht wahr?«
Ihre Stimme war sehr musikalisch und lockend. ›Süßlich‹ war Margarets erste Empfindung.
»Ja, ich bin Miss Belman.«
»Meinen Namen kennen Sie ja wohl? Werden Sie es hier nicht schrecklich langweilig finden?« fragte das junge Mädchen.
»Ich glaube nicht«, lächelte Margaret. »Es ist ein wunderschönes Stückchen Erde.«
Olga Crewes Augen überflogen die Landschaft mit kritischem Blick.
»Ja, das ist es sicher. Sehr schön . . . Aber man wird im Laufe der Jahre auch der Schönheit überdrüssig.«
Margaret horchte erstaunt auf.
»Sind Sie schon sehr lange hier?«
»Eigentlich bin ich hier schon seit meiner Kindheit. Ich dachte, Joe hätte Ihnen das schon erzählt; er ist ein unverbesserlicher alter Schwätzer.«
»Joe?« Sie stand vor einem Rätsel.
»Der Taxichauffeur. Er sammelt alle Neuigkeiten und verbreitet sie dann weiter.«
Sie blickte auf Larmes Keep und runzelte die Stirn.
»Wissen Sie, wie man früher dies Haus zu bezeichnen pflegte, Miss Belman? Das Haus der Tränen - Le Château des Larmes. Ich nehme an, so eine Art Überlieferung, die bis in die Tage des Baron Augernvert, der das Haus baute, zurückreicht. Die Einheimischen haben den eigentlichen Namen in Larmes Keep - das Verlies der Tränen - umgewandelt. Sie müßten sich mal die unterirdischen Gefängnisse ansehen.«
»Gibt es denn welche?« fragte Margaret überrascht.
»Wenn Sie die Verliese gesehen hätten, die schweren Ketten und die Ringe in den Mauern, die Spuren der bloßen Füße auf den abgewetzten Fliesen, dann könnten Sie erraten, wie der Name entstanden ist.«
Margaret starrte auf das Verlies zurück. Die Sonne versank hinter seinen Mauern, und dieser hohe, massive Steinhaufen, der sich scharf gegen das rote Licht der sinkenden Sonne abzeichnete, gewährte einen düsteren, unheilvollen Anblick.
»Direkt unheimlich«, sagte sie und schauderte.
Olga Crewe lachte.
»Haben Sie schon die Klippen gesehen?« fragte
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