0627 - Tanz der Kobra
faßte wie vorher seine Tochter die Schlange am Schwanz und hielt sie so hoch, daß sie keinen Bodenkontakt mehr fand. Sie wand sich weiter, besaß aber nicht genug Kraft, den Vorderkörper hochzubringen und zuzustoßen.
»Faszinierend«, stieß Nicole hervor. »Ich hätte versucht, sie direkt hinter dem Kopf zu fassen.«
»Wenn das klappt, in Ordnung«, sagte Andra. »Für gewöhnlich klappt es aber nicht. Die Schlange ist schneller und beißt die Hand, die sie fassen soll. Da ist es besser, sie beim Schwanz zu packen. Bis ihr Kopf herumkommt, hat man sie bereits in der Luft, und ihre Körpermuskeln sind nicht stark genug, um den nach unten hängenden Kopf dann anheben zu können.«
Er hielt die Kobra Nicole entgegen. »Möchten Sie sie einen Moment halten, Memsahib?«
Unwillkürlich wich Nicole zurück. »Lieber nicht«, flüsterte sie.
Andra grinste.
»Das ist es, weshalb wir Unberührbaren immer wieder Erstaunen hervorrufen. Wir kennen die Schlangen und sind ihre Freunde. - Vielleicht, weil auch die Schlangen Unberührbare sind…?«
Zamorra streckte die Hand aus.
Andra hob die Augenbrauen, dann hielt er ihm die Kobra entgegen. Zamorra faßte sie eine Handbreite unter Andras Griff, der sofort losließ, aber bereit war, sofort einzugreifen, wenn etwas schiefgehen sollte.
Zamorra hob die Kobra hoch und bewegte die andere Hand in der Nähe ihres Kopfes. Er konzentrierte sich auf die Schlange. Dann, nach einer Weile des Zögerns und Überlegens, streckte er die freie Hand aus und berührte den Schlangenkopf.
Die Kobra biß nicht.
Zamorra hob ihren Kopf und hielt ihn Nicole entgegen. »Sie ist friedlich«, sagte er. »Sie vertraut mir.«
Nicole wich wieder zurück. Dann aber vertraute sie. Sie berührte den Schlangenkopf mit ihrer Hand, streichelte die Schuppenhaut. »Du bist schön«, sagte sie leise. »Zu schön, um irgendwann als Handtasche zu enden. Neunzig Tage, dann lassen sie dich frei, und ich wünsche dir ein langes Leben in Freiheit und Frieden.«
Die gespaltene Zunge schob sich aus dem Schlangenmaul, bewegte sich hin und her. Nicole sah Gifttropfen an den Zähnen. Aber die Schlange blieb friedlich.
Zamorra gab sie Andra zurück.
Der ging kein Risiko ein und packte sie wieder nur beim Schwanz.
»Sahib, wie haben Sie das gemacht?« fragte er maßlos erstaunt.
Zamorra lächelte.
»Ich habe ihr gesagt, daß ich nicht ihre Beute sein kann, nicht ihr Feind bin und ihr Freund sein möchte.«
»Ihr gesagt ?«
Er nickte.
Andra zuckte mit den Schultern. »Ja, dann…«
Er ging mit der Schlange zurück zum Dorf.
Rahan sah Zamorra fragend an. »Sie können mit Tieren reden, Sahib?«
»Nein«, gestand Zamorra. »Aber ich liebe das Leben in jeder Form, und irgendwie spüren andere Lebensformen das. Nein…« Er hob abwehrend die Hände. »Verstehen Sie das jetzt nicht falsch. Es ist nichts, was man verallgemeinern kann, nichts, was man lehren kann. Man kann es nur empfinden, Rahan Bendhi. Wenn man fähig ist, auch das vermeintlich Bedrohliche zu lieben - dann kann man es einfach.«
»Ich möchte versuchen, das zu verstehen, Sahib«, sagte Rahan. »Ich danke Ihnen für dieses Erlebnis.«
Nicole holte Luft, um etwas zu sagen, aber Zamorra gab ihr einen kleinen, unbemerkten Wink, und sie schwieg - sie verstand.
Er hatte niemanden beeindrucken wollen. Es war ihm fast unangenehm, so bestaunt zu werden. Aber irgendwie hatte er plötzlich Kontakt zu der Schlange gefunden, und…
Es erfüllte ihn mit Freude.
***
Die beiden Messing-Kobras bewegten sich von einem Haus zum anderen. Sie fanden nur wenige geeignete Opfer, aber jedesmal, wenn sie zubissen und den Ssacah-Keim in ein neues Opfer pflanzten, wurde dieses dem Kobra-Dämon hörig, und aus dem Nichts heraus entstand eine neue Messing-Kobra.
Die metallischen Kobras waren Teil der Substanz des Dämons. So wie er die Lebensenergie der Opfer in sich aufnahm und durch sie stärker wurde, so vergrößerte sich auch jedesmal die dämonische Substanz.
Je mehr Ssacah von beidem erhielt, desto schwieriger wurde es, ihn zu bekämpfen. Und er wurde immer stärker.
Es gab in einem bestimmten Bereich Indiens mittlerweile ganze Dörfer, die nur noch von Ssacah-Dienern bewohnt waren. Unauffällig, aber stetig arbeiteten die Ssacah-Diener daran, ihre Zahl zu vergrößern und damit auch ihren Dämon stärker denn je zu machen.
Bishop hatte dazu geraten. Er wollte vermeiden, daß es noch einmal zu einem solchen Desaster kam wie einst, als Zamorra den
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