063 - Die linke Hand des Satans
dem sie sich einmieteten, war eine Bruchbude. Aber was machte das schon? Tim vermerkte es nur im Unterbewußtsein, wie schäbig das Zimmer war. Es versank bald um ihn, und er war mit den Händen im Paradies. Er wurde von ihnen auf das Bett gedrückt, und dann massierten sie seine Schultern. Tim begann zu schweben. Die Hände drehten ihn kraftvoll, aber zugleich auch zärtlich auf den Rücken herum. Er sah ihnen lächelnd zu, wie sie seine Brust hinaufspazierten, und dabei lösten sie bei jedem trippelnden Schritt ein elektrisches Kribbeln auf seiner Haut aus.
Die Hände blieben stehen und berieten sich. Und auf einmal wurden sie traurig, und Tränen bildeten sich auf ihren Spitzen. In Tim krampfte sich etwas zusammen. Er hob den Kopf und küßte die Tränen schnell weg. Es waren Theriaktränen. Die Tränen der Hände schmeckten süß wie Honig, und sie verursachten herrliche Träume. Obwohl er solche Träume eigentlich nicht brauchte, so genoß er sie doch. Er schlief und wachte zugleich, träumte von den Händen und sah sie gleichzeitig durch einen Schleier jenseits der Traumwelt tanzen. Es war ein ekstatischer Tanz, der sie über seine Brust immer näher an seinen Hals führte. Jetzt hatten sie den Hals erreicht, schmiegten sich fest an ihn, drückten gegen die heftig pochende Halsschlagader, steckten die Fingerspitzen zusammen und berieten sich.
Dann schienen sie einen Entschluß gefaßt zu haben. Die Finger stoben auseinander, spreizten sich und legten sich dann endgültig um den Hals.
Endgültig! Tim hatte das Gefühl, daß das, was die Finger nun tun würden, tatsächlich unabänderlich sein würde. Er verspürte leichte Trauer, dachte an das Ende. Und er fragte sich, was danach kommen mochte. Die ewige Leere?
Der Druck der Hände verstärkte sich. Tim genoß den Schmerz, denn er tat nicht weh. Nichts, was die Hände taten, konnte ihm weh tun. Sie drückten fester und fester zu, und schnürten Tim die Atemwege ab. Er röchelte leise im Traum, beschwerte sich jedoch nicht. Geduldig wartete er auf das Kommende.
Doch es ereignete sich nichts mehr. Was für wankelmütige Händel Sie hatten sich anders besonnen, zogen sich von seinem Hals zurück, faltete sich auf seiner Brust und warteten in dieser Ruhestellung auf sein Erwachen - das sie beinahe vereitelt hätten.
Doch die Linke hatte befunden, daß es dafür noch zu früh war.
Dorian begann sich zu fragen, ob es zwischen Tim Mortons Schicksal und dem von Faust wirklich Parallelen gab. Sicher. In beiden Fällen hatte Alraune ihre Hände im Spiel. Das war nicht zu übersehen. Doch Fausts Fall war doch gänzlich anders gelagert. Er hatte den Dämon Mephisto zum Gegenspieler gehabt, und Alraune war damals nur Mittel zum Zweck gewesen.
Aber damals wie heute war er, Dorian - beziehungsweise Speyer - in die Geschehnisse verstrickt. War es also so abwegig zu glauben, daß Hekate es eigentlich auf ihn abgesehen hatte?
Die Erinnerung an damals überschwemmte Dorians Geist. Er versuchte, sie in den Hintergrund zu verdrängen, um sich besser auf die Gegenwart konzentrieren zu können, doch das war einfach nicht möglich.
„Quäle dich nicht so, Dorian!" redete Coco ihm zu. „Ich bin sicher, daß wir Tim finden werden." „Das ist es gar nicht, worum ich mich sorge", erwiderte er.
„Was dann?"
„Es ist... Ich kann mich einfach nicht konzentrieren. Meine Gedanken entfernen sich immer wieder von den gegenwärtigen Problemen und wandern in die Vergangenheit. Kaum versuche ich an Tim zu denken, da tauchen die Bilder von Faust, Mephisto und Alraune auf. Sie tanzen einen seltsamen Reigen, in dessen Mitte ich stehe. Wir befinden uns in einer unwirklichen Landschaft, die verwildert ist. Knorrige Bäume, Marschland - und weiter weg dehnt sich die endlos scheinende Heide aus. Kaum ein Pfad führt durch sie. Und dort erhebt sich auch Mephistos trutzige Burg als mächtiger Schatten vor dem Himmel. Ein innerlicher Zwang treibt mich dazu, an diese Szene zu denken. Und ich reite als Georg Rudolf Speyer auf diese Burg zu. Ich habe mich entschlossen, die Entscheidung nicht dem Zufall zu überlassen, sondern sie selbst herbeizuführen. Ich bange um Alraune - und auch um Faust. Ich darf ihr Schicksal nicht Mephistos Willen überlassen. Deshalb reite ich zur Burg. Ich habe mich entschlossen, den Dämon Mephisto zu töten."
Vergangenheit
Die Burg besaß eine Zugbrücke und war von einem breiten, wasserführenden Graben umgeben. Dieser Graben war regelrecht aus dem Fels gehauen
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