0630 - Das Tengu-Phantom
breitbeinig stehen, weil unter ihm ein Monstrum lag, das ich als eine Mischung zwischen Pferd und Echse und Drachen ansah. Es hatte einen langen Schwanz, einen vorgeschobenen Drachenschädel mit einem fast menschlichen, surrealistischen Profil, eine gebogene Nase, ein scharfes, vorspringendes Maul und eine sehr lange, rötlich schimmernde Zunge, die ein Stück hervorschaute. Der lange Schwanz lag auf dem Boden wie ein mit grünlichem Schimmel bedeckter dicker Aal. Das Monstrum hatte eine sprungbreite Haltung eingenommen, als würde es jeden Moment starten.
Im Hintergrund schimmerte stilisiert das Gesicht einer bleichgelben Frau, deren Züge etwas Maskenhaftes hatten und mich an ein Wandmosaik erinnerten.
Bild oder Realität? Von uns aus nicht feststellbar, die Distanz war einfach zu groß.
Keinen von uns ließ der Anblick kalt. Suko atmete zischend. Ich bewegte meine rechte Hand und legte sie auf ein kaltes Stück Metall, das in meinem Gürtel steckte.
Es war der silberne Bumerang. Ihn hatte ich mitgenommen, weil ich irgendetwas haben musste, das ich als Waffe gegen den Tengu einsetzen konnte. Ob die Kraft des silbernen Bumerangs allerdings ausreichte, stand in den Sternen.
Es war noch ruhig. Überhaupt regte sich in dem Raum vor uns nichts. Da knieten die Schüler bewegungslos und hatten ihre Handflächen auf die Oberschenkel gelegt. Ihre Gesichter waren samt und sonders der einen Wand zugedreht, auf der sich der Tengu zeigte, als wäre er ein Teil von ihr.
Echt oder gemalt?
Noch immer beschäftigte mich die Frage. Wenn gemalt, denn hatte dieses Bild auch die Kraft, um lebendig werden zu können. So etwas hatte ich schon erlebt.
Ich malte mir aus, was geschehen würde, wenn uns die Schüler entdeckten. Meiner Ansicht nach standen sie auf der Seite des Tengus. In den Meditationspausen wurden sie mit ihm konfrontiert.
Wahrscheinlich wollte man ihnen denjenigen zeigen, dem sie einmal dienen mussten. Davon wollte Crawford nichts gewusst haben?
Ich zog mich zurück, schloss die Tür wieder und bemerkte Sukos unverständlichen Blick.
Ich schüttelte den Kopf, bevor ich Winston Crawford mit der rechten Hand winkte.
Unsicher schlich er heran. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Was ist, Sinclair?«
»Sie haben einen Blick hineinwerfen und Ihre Schüler sehen können?«
»Ja…«
»Sagen Sie mir nicht, Sie hätten davon nichts gewusst, verdammt! Sagen Sie nicht…«
»Nein!« Er würgte und stöhnte das eine Wort gleichzeitig hervor. Und wiederholte es noch einmal.
Ich überlegte, ob ich ihm glauben sollte, und schaute zu Suko rüber. Der nickte. Mein Freund schien Crawfords Antwort zu akzeptieren. Ich hatte schon damit gerechnet, dass er mit dem Tengu unter einer Decke steckte, obwohl er seine Frau verloren hatte. Aber wer wusste schon, welche Netze gestrickt und Fäden gezogen wurden?
Crawford merkte, dass wir auf eine Erklärung seinerseits warteten. Unsicher zuckte er die Schultern.
Mit flüsternder und stockender Stimme sprach er: »Ich weiß ja, dass es unnatürlich klingt, aber es ist nun mal eine Tatsache. Ich wusste nicht, dass dieser Killer in der Schule vorhanden war. Tut mir leid…«
»Weiter.«
»Ich war nie hier unten, Sinclair. Es ist nicht meine Welt. Okay, ich arbeite für einen japanischen Konzern, bin meinem Vorstand auch loyal gegenüber. Diese Loyalität geht allerdings nicht so weit, dass ich mich voll und ganz mit Japan identifiziere. Ich habe die japanische Art zu leben nicht übernommen, das müssen Sie mir glauben. Es war alles anders. Ich habe gutes Geld verdient. Ich sah den Unterricht als eine neue Aufgabe und Herausforderung an und bin deswegen auf Granit gestoßen, weil ich mich nicht bis in den Kern hinein engagierte. Vielleicht hätte ich hinter dieser Tür mit den anderen zusammensitzen sollen, dann würde meine Frau noch leben, dann wären nicht die Drohungen erfolgt. Aber ich habe es nun mal nicht getan, und daran kann ich nichts ändern.«
»Okay, Mr. Crawford. Was ist mit den anderen Lehrpersonen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Haben Sie diese Leute nicht gesehen? Wo befinden sie sich? Haben sie sich unter die Schüler gemischt?«
»Ich glaube nicht.«
»Wenn Sie an Ihre Pausen denken«, fuhr ich fort, »waren Sie da nie mit anderen Lehrern zusammen?«
»Nein, nicht in der Freizeit. Wir haben uns zusammengesetzt, wenn es fachliche Probleme gab. Die freien Stunden nutzte jeder von uns anders. Das stimmt.«
»Können Sie ungefähr sagen, wie weit die
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