0635 - Der achtarmige Tod
ein. Die Männer, die das Zelt und die Weißen bisher umringt hatten, blieben zwar angespannt, griffen aber weder an noch ein.
Etwas verwirrt sah Cristofero in die Runde.
Er suchte nach dem Stammeszauberer, konnte ihn aber nicht mehr entdecken.
In einer spontanen, wilden Reaktion fuhr er zu einer kleinen Gruppe von Kriegern herum, riß beide Arme hoch und brüllte: »Buuuh!«
Sekundenlang geschah gar nichts.
Dann begannen die Männer zu grinsen, einige lachten.
Cristofero grinste zurück. »Barbaren«, murmelte er. Solange sie erheitert waren, dachten sie nicht ans Töten. Vielleicht sollte er den Gnom aus dem Zelt scheuchen, daß er ein paar Purzelbäume schlug und Grimassen schnitt. Ein wenig Pantomime stimmte oft heiter. Allerdings, woran der Dicke weniger gern denken wollte, sollte es schon vorgekommen sein, daß ein verdrießlicher König den Hofnarren köpfen ließ.
Irgendwie mußten sie hier verschwinden. Es sah nicht so aus, als habe er trotz seines bisherigen Erfolges besonders gut gegen die Rothäute gepunktet. Es sah eher nach einem Patt aus. Nach wie vor hieß es, aus diesem Lager zu entkommen, und das so schnell wie nur eben möglich.
Cristofero tauchte wieder ins Zelt ein und schlug das Leder der ›Tür‹ zurück. Schlagartig wurde es nahezu dunkel im Innern des Zeltes, aber dafür konnte von draußen niemand mehr einen Blick riskieren auf das, was sich hier drinnen tat.
Cristofero sah ein eigenartiges Leuchten, und er hörte den Gnom sonderbare Worte murmeln.
»Auch das noch«, murmelte er. »Er wird doch wohl nicht schon wieder zaubern? O nein!«
O doch.
***
Nicole versuchte der Spur zu folgen, die der Flüchtende hinterlassen hatte. Abgeknickte Zweige, Eindrücke im weichen Boden. Aber sie war keine geübte Spurenleserin, und als eine andere Fährte die erste kreuzte und sich dann auch noch weitere mit ihr vermischten, war sie mit ihrer Kunst am Ende.
Sie blieb stehen und atmete tief durch. Was sollte sie tun?
Dem Fremden weiter folgen oder es einfach aufgeben?
Natürlich konnte sie ihm auch weiter nachsetzen. Mit Zamorras Amulett und der Zeitschau war das kein Problem. Und vielleicht war es auch wichtig; vielleicht hatte Eva ja tatsächlich recht mit der Behauptung, es handele sich bei dem Wesen um etwas Magisches, Nichtmenschliches. Ein Wer-Wesen.
Aber… sie waren nicht hier; um irgendwelche schwarzmagischen Geschöpfe zu jagen, sondern um offene Zeitkreise zu schließen. Was sich hier abspielte, war Vergangenheit. Es war zwar durchaus möglich, daß einer von ihnen getötet wurde. Aber andersherum wurde es schon schwieriger. Wenn sie in der Vergangenheit jemanden töteten - selbst wenn es sich um einen Dämon handelte -, dessen jetziges Wirken eine größere Rolle für die Gegenwart spielte, waren die Folgen nur schwer absehbar.
Immerhin waren es bis zum Jahr 1998 nur 322 Jahre! Das war ziemlich wenig, wenn es darum ging, ein Paradoxon wieder auszugleichen. Abgesehen davon, daß es nur eine Theorie war, daß die Zeit bei leichten Veränderungen von selbst für eine Korrektur sorgte. Das mochte vielleicht über ein paar Jahrtausende funktionieren, oder bei Wesen, die keine besondere Bedeutung für die Gegenwart hatten.
Wenn sie einen Hirsch oder einen Hasen erlegten, um den zu braten und sich von seinem Fleisch zu sättigen, würde dieses eine Tier sicher keinen besonderen Einfluß auf den Rest der Population haben. Wenn es allerdings eines, der letzten überhaupt in dieser Zeit und dieser Gegend war, waren die Folgen schon weitreichender.
Oder wenn durch ihr Eingreifen in dieser Zeit einer der Vorfahren von George Bush zu Tode kommen und dadurch in einer Generationenkette besagter George niemals geboren werden und daher auch kein Präsident der USA werden würde - hätte dann seine ›Ersatzperson‹ sich ebenso bereitwillig bereit erklärt, den Golfkrieg gegen Saddam Hussein zu beginnen, oder hätte er, mit etwas mehr Vernunft begabt als der tatsächliche Amtsinhaber, der lange vor seiner Präsidentschaft einmal geäußert hatte, es gäbe ›wichtigere Dinge als den Frieden‹, auf eine diplomatische Lösung hingewirkt?
Oder George Wilkes Booth, der Mörder Abraham Lincolns - wenn es ihn nicht gegeben hätte, wie sähe dann die Liste der amerikanischen Präsidenten heute aus?
Gedanken, mit denen sich jeder Zeitreisende beschäftigen mußte. Eingriffe in die Vergangenheit bedeuteten immer das Risiko einer Veränderung, die auch die Gegenwart betraf und möglicherweise
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