0636 - Der dunkle Lord
fragte Nicole. »Das delphische Orakel und die Sibylle von Cumae sind nichts gegen dich…«
»Halte mich nicht auf. Du würdest es bereuen«, sagte der Geflügelte drohend.
Er war rascher am Wagen als Raffael. Er griff nach dem Schwert und nahm es an sich. Raffael erstarrte mitten in der Bewegung. Dann wich er vorsichtig ein paar Schritte zurück.
»Niemand wird mich aufhalten«, sagte Lamyron.
Er breitete die Schwingen aus und erhob sich mit einem jähen Ruck in die Luft. Dann jagte er in Richtung Osten davon.
»Was - was war das?« stieß Raffael erschrocken hervor. »Mademoiselle, träume ich? Ich weiß genau, daß ich vor ihm am Wagen war! Ich hatte das Schwert bereits in der Hand! Ich weiß sogar noch, was ich zu ihm gesagt habe: Daß das Spiel nach unseren Regeln gespielt werde!«
»Offenbar ist Lamyron anderer Meinung«, erwiderte Nicole nachdenklich. »Er hat das Geschehene mit dem Feuer der Zeit rückgängig gemacht und zu seinen Gunsten korrigiert. Das…«
Sie sah zu Zamorra, der immer noch auf dem Beifahrersitz mehr lag als saß.
»Das ist vielleicht eine Chance«, fuhr sie fort. »Bestimmt die einzige, die wir überhaupt noch haben. Wenn es nicht bereits zu spät ist… denn er kann maximal dreizehn Stunden zurückgreifen. Ob das reicht?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Wir werden es erleben. Machen Sie sich auf etwas gefaßt, Raffael…«
***
Lamyron hatte es nicht eilig. Er wußte, daß die Dreizehn-Stunden-Frist ausreichte - für die Menschen.
Für ihn selbst war es zu spät.
Deshalb überhastete er nichts. Er wußte, daß für ihn danach nichts mehr so sein würde wie zuvor. Aber er mußte dieses Opfer bringen.
Er hatte eine Schuld abzutragen.
Zamorra hatte ihn aus Gash'Ronn befreit. Nun war es an ihm, einer Gefährtin Zamorras zu helfen. Danach waren sie quitt.
Unabhängig davon, ob sie Freunde oder Feinde waren.
Und vielleicht würde ihm dabei auch noch etwas anderes gelingen. Nicht gleich auf Anhieb, aber vielleicht später, im Lauf der Zeit.
Den Spieß umzukehren und den Dunklen Lord unter seine Kontrolle zu bringen…!
Den Toten… der dennoch lebte…
Lamyron erreichte den Ort, an dem er den Lord und die Geisel wußte.
Einem Raubvogel gleich stieß er herab und landete unmittelbar vor dem Unheimlichen.
Der Puppengesichtige kicherte und schlug seine Kapuze zurück. Deutlich konnte Lamyron jetzt die große Kopfwunde sehen. Der Lord hatte sie sich an Lamyrons Stelle zugezogen, als Lamyron von dem Auto durch die Luft geschleudert wurde und hart auf den Boden prallte. Da war der Lord gestorben, weil er es war, der die Kontrolle ausübte.
Das hatte Teri in Lamyrons Flügel-Prophezeiung gesehen…
»Welch wunderbare Überraschung«, höhnte der Lord. »Mein Sklave kehrt freiwillig zu mir zurück, um sich mir zu unterwerfen…«
Lamyron antwortete nicht.
Er sah Teri an.
Dann schleuderte er das Feuer der Zeit auf den Dunklen Lord.
***
Weltraumkalte Augen beobachteten das seltsame Wesen, das unter dem Himmel dahintrieb. Ein geflügelter Mann, einem Engel gleich. In seinen Augen brannte ein eigentümliches Licht.
Der Dunkle Lord kannte dieses Phänomen nicht. Aber er fühlte, daß er hier vielleicht ein Werkzeug gefunden hatte, das er einsetzen konnte.
Er lachte lautlos auf.
Und schleuderte seine Kraft auf den Geflügelten.
Paradox-Magie wurde innerhalb von Sekundenbruchteilen wirksam und erfaßte den Engelsgleichen.
Der Dunkle Lord fühlte Zufriedenheit in sich aufsteigen, als er die Stärke dieses Wesens fühlte. Dann stand er ihm gegenüber.
Er sah die ausgebreiteten Schwingen und die Bilder, die sich auf den gespreizten Innenseiten der Flügel zeigten. Verwaschen zwar, aber erkennbar.
Sie zeigten ihn.
Da wußte er, daß es richtig war, was er tat.
Der Engelsgleiche war sein auserwählter Todesbote.
Die Paradox-Magie, unwahrscheinlich stark in ihrem Wirken, ließ dem Eng eis gleichen keine Wahl.
Der Dunkle Lord hatte eine vage Erinnerung an Dinge, die geschehen sein könnten, und er entnahm dem Wissen des Geflügelten, daß dieser mit dem Feuer in seinen Augen eine Manipulation der Zeit vorgenommen hatte.
»Ah«, murmelte der Lord. Jetzt begriff er, was das für ein Phänomen war, das er in Lamyrons Augen bemerkt hatte. Es war eine fantastische Gabe.
Aber sie war auch mit äußerster Vorsicht zu genießen, denn vieles von dem, was manipuliert wurde, ließ sich nicht vorher kontrollieren.
Ob Lamyron geahnt hatte, daß der Lord diesmal einen anderen Weg
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