0639 - Merlins Zauberwald
Geschehen zurücklag. Etwa 24 Stunden waren die ›Schallmauer‹, die ein Mensch ertragen konnte. Was noch weiter in die Vergangenheit zurückreichte, überstieg mit Sicherheit die Grenzen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit und konnte zum Tode führen.
Konkret erprobt hatten Zamorra und Nicole das aus naheliegenden Gründen bisher allerdings noch nicht…
Vermutlich half ihnen in diesem Fall auch die relative Unsterblichkeit nicht weiter, die sie erlangt hatten, als sie vom Wasser der Quelle des Lebens tranken. Das Wasser stoppte nur den Alterungsprozeß, neutralisierte Krankheiten und Gifte und verstärkte die Selbstheilungskräfte des Körpers. Aber eine derartige Schwächung konnte wahrscheinlich auch hierdurch nicht ausgeglichen werden.
»Was ist das?« flüsterte Nicole und streckte vorsichtig eine Hand nach dem Amulett aus, zog sie aber sofort wieder zurück, ohne die magische Scheibe berührt zu haben.
»Ich weiß es nicht«, murmelte Zamorra.
Er war sicher, daß er die Zeitschau nicht aktiviert hatte. Nicht einmal versehentlich!
Denn um sie zu nutzen, bedurfte es einiger Anstrengung mehr, als nur ein paar Hieroglyphen auf dem Amulett zu verschieben oder einen entsprechenden Gedankenbefehl zu geben. Er mußte sich in einen Halbtrance-Zustand versetzen. Das ging zwar ›automatisiert‹ durch ein sogenanntes Schaltwort, das den posthypnotisch eingerichteten Zustand aktivierte; umgekehrt reichte ein weiteres Schaltwort, ihn wieder aufzuheben - aber weder an das Schaltwort noch an die Zeitschau hatte Zamorra in den letzten Minuten, Stunden, Tagen auch nur gedacht.
Also konnte sie es auch nicht sein.
Ganz abgesehen davon, daß das Bild nicht die unmittelbare Umgebung zeigte.
Die Zeitschau hätte hier und jetzt das ›Zauberzimmer‹ zeigen müssen.
Aber das Bild projizierte eine völlig andere Szenerie, eine völlig andere Landschaft.
Ein Wald…?
Aber was war das für ein Wald? Wo befand er sich? Und was sich in diesem Wald bewegte…
Zamorra schluckte.
»Das gibt's doch nicht!« stieß er hervor.
»Wenn man vom Teufel spricht, dann kommt er«, murmelte Nicole und erinnerte damit an die Person, von der sie vorhin noch kurz gesprochen hatten.
Das Amulett-Bild zeigte Baba Yaqa, die auf ihrem Ofen durch den Wald ritt…
***
Merlin begriff, daß er keine Wahl hatte.
Er ahnte, daß Baba Yaga Schaden anrichten würde. Sehr großen Schaden, der vielleicht niemals behoben werden konnte. Aber sie wußte nicht einmal, was sie anrichtete. Sie kannte die Geheimnisse des Zauberwaldes nicht; zumindest nicht in der nötigen Eindringlichkeit.
Warum nur hatte Asmodis sie auf Broceliande aufmerksam gemacht?
Nun war sie hier, hatte Broceliande gefunden. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Nichts würde künftig mehr so sein, wie es einmal gewesen war. Das wußte Merlin, denn er kannte Yaga nur zu gut.
»Bruder, was hast du getan?« murmelte Merlin.
Er brauchte Hilfe.
Aber wen sollte er bitten?
Zamorra vielleicht…
Aber Zamorra war nie zuvor im Zauberwald gewesen.
Ihm fehlte die Orientierung, ihm fehlte auch das Wissen. Er wäre verloren, noch ehe er der Hexe überhaupt gegenübertreten konnte.
Und das konnte, wollte Merlin ihm nicht antun.
Zamorra hatte sich ihm gegenüber oft genug nicht nur àls Helfer, sondern auch als Freund erwiesen. Einen Freund schickt man nicht in den Untergang.
Zumindest nicht, wenn es vermeidbar ist, wenn es noch andere Lösungen gibt, dachte Merlin bitter.
Aber welche Lösungen?
Was konnte er noch tun?
Seinen dunklen Bruder um Hilfe bitten?
»Nein!« stieß er hervor.
Asmodis wäre sicher sein bester Vertreter, und er konnte den Zauberwald auch betreten, denn sie hatten beide doch so unglaublich viel gemeinsam…
Aber Asmodis schied aus.
An ihn konnte Merlin sich nicht wenden.
Asmodis hatte doch erst dafür gesorgt, daß sich diese seltsame, zerstörerische Konstellation bildete -Merlin hilflos, und Yaga in Broceliande!
»Weiter«, suchte Merlin. »Wer kommt noch in Frage?«
Jemand, der wie Asmodis bereits in Broceliande gewesen war. Jemand, der nicht erst herausfinden mußte, wie sich diese wundersame Welt strukturierte, nach welchen Gesetzmäßigkeiten alles in ihr ablief.
Und drei Namen fielen Merlin ein.
Gryf ap Llandrysgryf!
Der Druide vom Silbermond, der schon seit Jahrtausenden sein Freund war. Der alte Vampirjäger und Mädchenverführer, der nach mehr als achttausend Lebensjahren immer noch aussah wie ein Zwanzigjähriger.
Teri Rheken!
Die
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