064 - Der Frauenhexer
einer der Arbeitenden und wischte sich mit dem Jackenärmel den Schweiß von der Stirn. „Hier haben sie ihn eingemauert, damals, 1583. Wenn die Gerüchte stimmen, Otranto, dann sind wir bald reiche Leute.“
Angestrengt arbeiteten die Männer weiter. Ein Stein fiel nach innen aus der Mauer, gab eine dunkle Höhlung frei. Mit verdoppelter Anstrengung schlugen die Männer auf das alte Gemäuer. Bald schon klaffte ein großes Loch, wurde so weit vergrößert, daß ein Mann hindurchschlüpfen konnte.
Der Mann, der Otranto genannt worden war, leuchtete in den Raum, der sich hinter der Mauer befand.
Es war ein kleines, enges Geviert. Zwei Meter breit, zwei Meter tief, drei Meter hoch. Der Strahl der Taschenlampe fiel auf ein Bündel in der Ecke, ein altes, vermodertes Wams und Knochen. Auf dem Bündel lag ein Totenschädel, an dem ein paar braune Haarsträhnen klebten.
Otranto sagte: „Wir haben uns nicht geirrt. Das ist die Gruft, in der der Hexenmeister eingemauert wurde. Nun gilt es, die alten Beschwörungen zu sprechen, die Riten zu vollführen.“
Einer der beiden anderen Männer wich ein paar Schritte zurück.
„Tun Sie, was Sie wollen“, sagte er. „Sie haben mich dafür bezahlt, daß ich Ihnen helfe, in die Gruft einzudringen. Das habe ich getan. Mit allem weiteren habe ich nichts mehr zu tun. Wenn Sie auf mich hören, dann lassen Sie das verdammte Ding da drin in Ruhe. Das bringt nichts Gutes.“
„Reden Sie nicht soviel“, sagte der zweite Mann. „Ihre Arbeit ist getan, Ihr Geld haben Sie. Worauf warten Sie noch?“
Ohne ein weiteres Wort ging der Mann.
„Sie glauben wirklich, Sie können das da drin wiederbeleben?“ fragte der, der zuletzt gesprochen hatte, skeptisch. Otranto nickte.
„Wenn er wirklich ein Hexer war, dann konnte er nicht sterben. Ich bin nicht nur Hellseher, ich habe mich auch viel mit Magie und Zauberei beschäftigt, mit Parapsychologie und Spiritismus. Sie haben sich an den richtigen Mann gewendet.“ „Hoffen wir es“, sagte der andere, ein großer, hagerer Mann mit hartem Gesicht und weißem Haar. Er schien weit skeptischer als der dunkelhaarige, untersetzte Otranto mit seinen fanatischen Augen.
„Ihnen geht es um die Verwirklichung eines Traums, mir um Geld. Der da drin weiß, wo das sagenhafte Beuteversteck jener Räuber ist, die im 16. Jahrhundert diese Gegend und den Spessart unsicher machten. So steht es in einem alten Dokument, das ich in der Sammlung eines meiner Ahnen fand.“ „Worauf warten wir dann noch?“ Otranto trat an die Öffnung in der Mauer. Er rief lateinische Worte, Zauberformeln. Dann, dreimal: „Gilbert Signefeu!“ Dann fügte er hinzu: „Wo immer du auch sein magst, Gilbert Signefeu, ich rufe dich zurück in deine irdische Existenz, Hexer Signefeu!“ Es knackte in der Mauer.
„Achtung!“ schrie der Hagere, sprang vor und riß Otranto zurück.
Im letzten Augenblick. Die Mauer vor der Gruft wankte, stürzte ein.
„Verdammt, wie konnte das geschehen?“ rief der Hagere.
Otrantos Finger krallten sich in seinen Arm.
„Sehen Sie doch, dort!“
Der Hagere wandte den Kopf. Hinter dem Schutt der eingestürzten Mauer stand eine Gestalt.
„Wer … ruft … Gilbert Signefeu?“
Unwirklich, fern klang die Stimme, dumpf und hohl wie aus einem Brunnenschacht. Da stand ein Mann, groß und schlank, in ein schwarzes, besticktes Wams gekleidet. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt. Sein Gesicht lag im Dunkeln.
Der Hagere stand wie gebannt. Doch sein Begleiter sprach.
„Ich, Charles Otranto, habe dich gerufen, Gilbert Signefeu, um dir zu sagen, daß deine Gefangenschaft vorbei ist, daß du frei bist. Wir haben die Mauern deines Gefängnisses niedergerissen, Gilbert Signefeu.“
„Frei!“ Ein hohles Lachen folgte den Worten. „Was weißt du von den Mächten, die du geweckt hast, Menschenwurm? Dreihundertneunzig lange Jahre moderte und faulte mein Körper in dieser Gruft. Nur eine Stunde am Tag, zwischen Mitternacht und ein Uhr, erwachte ich zum Leben. Und du nennst mich frei?“
„Wir haben dich befreit“, sagte Otranto. „Du wirst uns sicher dafür belohnen, Hexer Signefeu. Du kennst doch das Schatzversteck der Räuber, die zu deiner Zeit die Gegend unsicher machten, die Kaufleute plünderten und einsame Höfe brandschatzten!“
„Belohnen? Ja, belohnen will ich euch. Als ich hundert Jahre gefangen war, als mein Geist im Zwischenreich wohnte, das Tote und Lebende scheidet, und mein Körper in dieser Gruft verwest war, da
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