0642 - Voodoo-Man
auf die Theke zu. Das war ein kalkuliertes Risiko. Sie glaubte nicht, daß der Mann auf sie schießen würde. Womit sie recht hatte, denn Oliver sah sie nur an, unternahm aber nichts.
»Ihr Bruder William schickt mich. Er hat mir von Ihren Problemen erzählt.«
Sie mußte aufpassen, daß sie nicht versehentlich »wir« sagte, denn Zamorras Anwesenheit war der Joker, den sie noch geheimhalten wollte.
»William?« wiederholte Marie etwas abwesend.
Nicole fiel der merkwürdige Blick auf, mit dem Marie sie betrachtete. Was hatte die Frau nur? Störte sie ihre Kleidung? Nicole war zwar klar, daß der schwarze, hautenge Overall für diese Gegend etwas untypisch sein mußte, aber sie war schon wesentlich freizügiger herumgelaufen, ohne einen solchen Blick zu ernten. Irgendwas stimmte hier nicht.
»Hören Sie«, versuchte sie es erneut, »ich weiß, daß Sie hier Probleme mit dunklem Voodoo-Zauber haben. Glauben Sie mir, ich kann Ihnen helfen.«
Sie konnte förmlich sehen, wie Marie sich zusammenreißen mußte, um dem etwas einseitigen Gespräch zu folgen.
»Nein«, antwortete Marie überraschend, »das können Sie nicht. Sie tauchen einfach hier auf und behaupten, daß Sie uns helfen können. Dabei haben Sie überhaupt keine Ahnung von den Dingen, die hier passieren.«
Nicole versuchte sie zu unterbrechen, wurde aber von Oliver mit einer herrischen Handbewegung gestoppt.
»Ich weiß nicht, warum William Sie geschickt hat und ob Sie die Wahrheit sagen«, fuhr die Besitzerin des Gasthauses fort, »aber diese Insel hat nur deshalb überlebt, weil wir nicht darauf gewartet haben, daß uns Weiße sagen, was wir zu tun und zu lassen haben. Ja, es stimmt, wir haben ein Problem. Aber heute abend werden wir das ändern.«
Sie zog einen Schlüssel unter der Theke hervor und reichte ihn Oliver.
»Und Sie bleiben so lange hier. Wenn wir zurück sind, werden wir herausfinden, ob Ihre Geschichte stimmt. - Bring sie ins Hinterzimmer«, sagte sie an Oliver gewandt.
Nicole unterdrückte eine Verwünschung. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß man ihr mit Rassismus begegnen würde. Gegen eine solch vorgefaßte Meinung hatte sie keine Argumente.
»Marie«, sagte sie trotzdem, »bitte unternehmen Sie nichts, was Sie später bereuen könnten. Sinistre ist zu gefährlich. Sie können sich nicht allein mit ihm einlassen.«
»Ich bin nicht allein«, antwortete Marie stolz. Sie hatte es vorgezogen, Nicole absichtlich mißzuverstehen. Im Moment konnte sie sich nicht mit der weißen Frau beschäftigen. Andere Dinge erforderten ihre Aufmerksamkeit. Marie sah zu, wie Oliver Nicole ins Hinterzimmer führte. Das gab ihr einen Moment Zeit, ihre Fassung wiederzugewinnen.
Denn sie hatte Nicole wiedererkannt. Sie hatte sie in ihren Träumen gesehen - in den Träumen, in denen die Katastrophe über sie hereingebrochen war.
Marie kannte sich nicht mit Wahrträumen aus, hatte im Gegensatz zu ihrer Großmutter nie daran geglaubt. Aber sie hoffte, sie könnte die Zukunft vielleicht ändern, wenn sie das Auftauchen der weißen Frau verhinderte. Vielleicht würde alles gut werden, wenn sie nicht dabei war.
Aber was war mit dem anderen Weißen?
***
Oliver schob Nicole wortlos mit dem Lauf seiner Schrotflinte in das kleine Hinterzimmer und schloß die Tür hinter ihr ab. Sie hörte, wie sich seine Schritte draußen entfernten.
Nicole lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und analysierte ihre Lage. Zamorra war frei, was bedeutete, daß er früher oder später versuchen würde, sie zu befreien. Allerdings hatte sie nicht vor, so lange zu warten. Sie mußte verhindern, daß die Dorfbewohner in ihr Unheil liefen. Zwar wußte sie nicht, welchen Plan Marie verfolgte, aber sie hatte genug Erfahrung mit Magie, um zu ahnen, daß die Erfolgschancen sehr gering sein würden.
Nicole sah sich in dem kleinen fensterlosen Zimmer um. In der Mitte stand ein runder Tisch, auf dem ein Haufen Pokerkarten und einige Würfel lagen. Einige Stühle vervollständigten das Bild einer Spielerrunde. An der linken Wand ein Regal voller Konservenbüchsen, an der rechten Wand zahlreiche Holzkisten, die sich bis weit in den Raum hinein stapelten.
Im gleichen Moment entdeckte Nicole, daß sie nicht allein war.
Hinter den Kisten ragten Beine hervor.
Vorsichtig umrundete die Französin die Kisten. Dahinter lag die Leiche eines Mannes, dessen Hemd von seinem Blut gefärbt war.
Nicole sah genauer hin. Sie kannte den Mann! Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach dem Namen,
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