0644 - Der Leichenfürst von Leipzig
überhaupt nicht. Erika war früher ein liebes Mädchen gewesen, heute abgebrühter als mancher Kerl.
So wie sie weggegangen war, konnte das nur eines bedeuten: Sie schaffte wieder an.
Das Küchenfenster der Frau Schulz lag zur Straße hin. Erika musste sich noch im Treppenhaus befinden, als die Nachbarin bereits an der Scheibe stand und die alte Gardine zur Seite schob. Manchmal wurde Erika auch von einem Wagen abgeholt. Wenn Messe war, sogar von welchen mit West-Kennzeichen. Heute nicht.
Da stand nur ein Mann.
Frau Schulz gehörte nicht zu den ängstlichen Frauen, doch als sie diesen Typen sah, bekam sie es schon mit der Angst zu tun und schlug hastig ein Kreuzzeichen.
Sie konnte von ihm nicht einmal das Gesicht erkennen, denn der Hut mit der breiten Krempe verdeckte fast seinen gesamten Kopf. Er stand dicht am Gehsteig und wartete.
Die Zuschauerin versuchte, das Alter des Mannes zu schätzen. Es war nicht möglich, denn er hob nicht einmal den Kopf, konzentrierte sich dafür auf die Haustür, aus der Erika in diesem Augenblick trat und nur so weit ging, dass Frau Schulz sie gerade noch erkennen konnte.
Sie blieb vor dem Mann stehen, ihrem Kunden, und verhandelte. Sogar die Geldscheine sah Frau Schulz. Da sie ihre Brille aufgesetzt hatte, erkannte sie das Westgeld.
Klar, Ostgeld war nicht gefragt. Der Liebeslohn wurde in harten Devisen gezahlt.
Was dann aber geschah, würde sie nie mehr vergessen, und sie gab zu, dass sie etwas Derartiges noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Es war furchtbar, grauenhaft, unbeschreiblich, denn sie wurde Zeugin eines schrecklichen Todes.
Sie wäre gern vom Fenster verschwunden, aber sie schaffte es nicht. Das grausame Geschehen zog sie zu stark in ihren Bann, und sie spürte das Herz so laut klopfen, als wollte es jeden Moment ihre Brust auseinander reißen.
Erika fiel hin.
Mitten auf der Straße auf dem feuchten Kopfsteinpflaster blieb sie regungslos liegen. Auf der Seite, den einen Arm vorgestreckt und wie eine Tote.
Frau Schulz erschrak über ihre eigenen Gedanken. Wenn das tatsächlich der Fall war, dann war sie Zeugin eines Mordes geworden. Das war kein Kino oder Theater, sondern brutale Wirklichkeit. Sie wartete darauf, dass sich das Mädchen bewegte, aufstand und davonging. Das aber tat nur der Kunde, der auf dem Gehsteig gestanden und alles mit angesehen hatte.
Ihre Gedanken verhedderten sich. Sie überlegte, sprach mit sich selbst und kam zu dem Schluss, dass der Kunde dem Mädchen nichts getan hatte. Wer aber dann?
Plötzlich bekam sie weiche Knie und stellte sich noch einmal vor, wie alles abgelaufen war. Und dann waren da diese ungewöhnlichen Bewegungen, als hätte sich Erika gegen einen Feind gewehrt, gegen einen Mörder oder was auch immer.
Gegen einen, der nicht vorhanden gewesen war.
Oder doch?
Sie dachte sehr intensiv nach, vergegenwärtigte sich noch einmal den Vorgang und fand die Erklärung, auf die sie zuvor kaum geachtet hatte. Da war etwas gewesen. Etwas, das man nicht hatte anfassen können, das einfach aus der Luft gekommen war und sich über Erika gelegt hatte. Es hatte von ihr Besitz genommen.
Ein Schatten?
Frau Schulz überlegte. Sie fuhr nervös durch ihr graues Haar, bewegte den Mund, ohne etwas zu sagen, dachte hin und her und kam zu keinem anderen Schluss.
Erika war durch einen Schatten umgebracht worden!
Wie lange sie vor dem Fenster gestanden hatte, wusste sie selbst nicht zu sagen. Jedenfalls war der angebliche Kunde längst verschwunden. Die Gasse wirkte so gespenstisch leer, trotz des bewegungslosen Körpers, für den es möglicherweise keine Hoffnung mehr gab.
Frau Schulz dachte an den Krieg und die verdammten Bombennächte, wo sie als junges Mädchen auf die Straße getrieben worden war, um beim Einsammeln der Leichen mitzuhelfen. Das alles kam ihr in den Sinn, und es kehrte irgendwie wieder.
Sie hatte damals auch feststellen müssen, ob die Menschen noch lebten oder schon tot waren.
Früher hatte sie zumeist Fremde überprüft, heute aber war es eine Bekannte, ein junges Ding von gerade mal zwanzig Jahren. Furchtbar, schlimm und grauenhaft.
Und keiner schaute nach, niemand hatte etwas von diesem furchtbaren Vorfall mitbekommen, nur sie.
Frau Schulz atmete tief ein. Erst jetzt, als sie vom Fenster zurückgetreten war, überkam sie der Schock. Plötzlich fing sie am gesamten Leibe an zu zittern. Ihr wurde heiß und kalt zugleich. Sie musste sich an einer Stuhllehne festhalten, um nicht umzufallen. Die kleine Welt um
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