0644 - Der Leichenfürst von Leipzig
den Beinen stand, obwohl sie das Gefühl hatte, mehr tot als lebendig zu sein. Die Luft, die Kälte, die fast schreiende Todesangst.
Erika, die so scharf auf Westgeld gewesen war, würde es nie mehr ausgeben können. Sie sackte mitten auf der schmalen Straße zusammen und rührte sich nicht mehr.
Als Leiche blieb sie liegen…
Der Schatten aber lebte. Mit einer ruckartigen Bewegung löste er sich von der Gestalt und huschte auf Hoffmann zu. Für einen Moment sah es so aus, als wollte er in einem bestimmten Winkel von ihm abstehen, dann rollte er sich zusammen und fuhr in ihn hinein.
So jedenfalls sah es aus, denn er war verschwunden und tauchte auch nicht wieder auf.
Hoffmann warf keinen Blick mehr auf die Tote. Er drehte sich um, rückte seinen Hut zurecht und ging davon, als wäre nichts geschehen. Erst als er den schmalen Hauseingang erreicht hatte, blieb er stehen und schaute nach rechts.
Aus dem Dunkeln hörte er das heftige Atmen. Dann löste sich die zweite Gestalt. Vorsichtig trat Vincent van Akkeren näher. Nickend blieb er stehen und lächelte.
Hoffmann fragte: »Hast du alles gesehen?«
»Ja.«
»Und warst du zufrieden?«
Van Akkeren lachte. »Da fragst du noch? Es war super, es war einmalig, mein Lieber.«
»Das meine ich doch.«
Van Akkeren kam auf den Schatten zu sprechen. »Was ist eigentlich mit ihm?«
»Was soll sein?«
»Ich meine…«
»Hör zu, van Akkeren. Wir beide dienen irgendwie der Hölle. Und die Hölle hat sich bei mir etwas Besonderes ausgedacht. Ich trage den Schatten in mir. Ich kann ihn lösen, ich kann ihn behalten. Er kann morden, wenn andere dabei sind. Und es gibt nichts, was ihn stoppen könnte, van Akkeren. Gar nichts.«
»Wirklich nichts?«
»Nein, er killt alles.«
Van Akkeren nickte. »Das ist gut«, flüsterte er, »das ist sogar mehr als gut.«
»Dann sind wir im Geschäft?«, fragte Hoffmann.
Der andere lachte bellend, ein Zeichen dafür, dass er zufrieden war und sich freute. »Da fragst du noch, Hoffmann? Sicher sind wir im Geschäft. Und wie wir das sind, mein Lieber…«
***
Hätte jemand Frau Schulz nach einer Zusammenfassung ihres Lebens gefragt, so wären die Antworten ungefähr so gewesen: Geboren 1922, als Kind die Weimarer Republik mit all ihren Nachteilen kaum erlebt, das Dritte Reich dafür um so intensiver, den verfluchten Krieg, die langen Bombennächte, den Verlust ihres Mannes in Russland, anschließend die Besetzung durch die Russen, die zusammen mit den Deutschen das sozialistische Paradies hatten aufbauen wollen. Es war kein Paradies geworden, dafür ging es bergab. Immer weiter. Auch sie hatte es bemerkt, trotz ihrer sicheren Arbeitsstelle in einem der Kombinate, die um Leipzig herum lagen und als Industriebetriebe die Umwelt verdreckt hatten, sodass die Stadt samt Umgebung einen traurigen Ruf in Mitteleuropa bekommen hatte.
Viele Bekannte waren in den letzten Jahren gestorben, allmählich dahingesiecht, wie man gesagt hatte, wenn man unter sich war. Aber Frau Schulz war zäh und hatte als stille Beobachterin mit angesehen, wie der Sozialismus allmählich zusammenbrach und wie von Leipzig aus die gewaltlose Revolution startete.
Jetzt hoffte sie, dass bessere Zeiten anbrechen würden, und sie war schon froh, dass sie das wenige Gesparte einigermaßen günstig umtauschen konnte.
Eines hatten ihr die langen Jahre nicht nehmen können: die angeborene Neugierde. Frau Schulz interessierte sich für alles, vor allem für ihre Umgebung und ihre Nachbarn. Sie war über alles gut informiert, deshalb nannte man sie hinter ihrem Rücken auch die wandelnde Zeitung.
Dass Erika, ein Mädchen, das sie hatte aufwachsen sehen, nun diesen Weg gehen würde, um Geld zu verdienen, war ihr ebenso wenig entgangen wie das heimliche Fremdgehen eines Nachbarn aus der oberen Etage mit der Frau von gegenüber.
Sie hatte für alles offene Ohren und Augen. Besonders für Erika.
Ihre Eltern waren geschieden, ausgezogen, lebten irgendwo in der Nähe von Berlin, so musste sich die Tochter allein durchs Leben schlagen, was sie dank ihrer Figur und ihres Aussehens auch schaffte, ohne daran zu denken, dass sie dabei innerlich kaputt gehen konnte. Es hatte auch keinen Sinn, das Mädchen darauf hinzuweisen, es hätte sowieso keine Lehre angenommen. Wer sich einmal auf diesem Weg befand, der rutschte immer tiefer, bis er schließlich ganz unten endete.
Zudem ärgerte sich Frau Schulz auch über die schnoddrige Art der jungen Frau. Die Antworten passten ihr
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