0644 - Der Leichenfürst von Leipzig
sie herum war zu einem Kreisel geworden, der sich immer schneller drehte. Es dauerte Minuten, bis sie sich gefangen hatte, in den kleinen Flur ging, den Mantel überstreifte, die Wohnung verließ und durch das Treppenhaus schritt. Die Tritte klangen auf den Holzstufen extrem laut.
Sie ging wie im Traum. Und wie im Traum öffnete sie auch die Haustür, um auf die Gasse zu treten.
Es stank wieder, es stank eigentlich immer in der Stadt, besonders bei Wettertiefs, wenn die Luft drückte und sich der verfluchte Geruch in Bodennähe hielt.
Der erste Blick nach links, der zweite nach rechts. Niemand näherte sich, sie war noch immer allein, und vor ihr lag die leblose Gestalt. Mit Zitterknien ging sie hin, blieb neben Erika stehen und traute sich erst nach einer Weile, sich zu bücken, um herauszufinden, was tatsächlich mit der jungen Frau geschehen war.
An der Schulter fasste sie Erika an. Der Körper war so steif, erschreckend steif.
Dann rollte sie die Leblose auf den Rücken. Aus einer sehr kurzen Entfernung starrte sie in die Augen des Mädchens.
Frau Schulz kannte den Blick noch vom Krieg her. Da war nichts zu machen, es gab keine Chance mehr für Erika, auch nicht die geringste. Das Mädchen war tot.
»Mein Gott!«, flüsterte die Frau. »Das hast du nicht verdient, Kind. Nein, das hast du nicht verdient.« Sie hörte die Hektik aus ihrer Stimme und wunderte sich gleichzeitig darüber, wie kalt und ruhig sie nachdenken konnte.
Wer hatte Erika getötet?
Es musste eine Antwort auf die Frage geben. Von selbst starb man nicht. Jedenfalls war es nicht der Kunde gewesen, und Frau Schulz dachte daran, wie sich Erika in den letzten Minuten ihres Lebens benommen hatte. Irgendwie schlimm und unnatürlich. Sie hatte gekämpft und sich gegen einen Feind gewehrt, der nicht vorhanden gewesen war.
Bis auf den Schatten!
Jetzt fiel es ihr wieder ein. Ja, da war ein Schatten über die Gestalt gehuscht. Ein dunkles Etwas, das den Körper des Mädchens umschlungen und regelrecht zerdrückt hatte.
Bei genauerem Hinsehen entdeckte sie sogar Druckstellen am Hals des Mädchens.
Frau Schulz stand auf. Sie konnte sich keinen Reim mehr auf das Gesehene machen, aber sie hatte das Gefühl, in Dinge hineingeraten zu sein, die eine andere Macht diktierte.
Ein Mord ohne Mörder, eine Tat ohne Täter. Jedenfalls hatte sie keinen normalen gesehen.
Sie ging wieder zurück, den Blick auf die Leiche gerichtet, und sah den Radfahrer erst im letzten Augenblick, denn er war ohne Licht über das alte Pflaster gefahren.
Dafür hörte sie ihn fluchen, als er dicht neben ihr bremste. Sie kannte den Mann, er wohnte einige Häuser weiter, hieß Schneider und kam von der Nachtschicht aus dem Kombinat. Wie immer wehte eine Wodkafahne aus seinem Mund.
Er war nicht so betrunken, dass er nichts mehr gesehen hätte. Er schüttelte den Kopf, stieg vom Rad, legte es hin und fragte: »Was ist denn los?«
»Sie ist tot.«
»Hä?«, machte der Mann. »Wer? Die Kleine hier auf der Straße? Die soll tot sein?«
»Ja.«
Bisher hatte Schneider es noch für einen schlechten Witz gehalten. Nun schaute er in das Gesicht der Frau und dachte auch über die sehr ernst gesprochene Antwort nach.
»Mach - mach keinen Scheiß, Grete.«
»Sie ist tot.«
Schneider schaute Grete Schulz an, als wäre sie die Täterin. Er bequemte sich schließlich, genauer nachzusehen, nickte und fuhr mit beiden Händen durch sein Gesicht.
»Nun?«
»Verdammt, du hast Recht!«
Grete Schulz dachte nicht daran, auch nur ein Wort von dem zu sagen, was sie gesehen hatte. Stattdessen antwortete sie: »Ich fand sie hier.«
»Hast du schon die Polizei angerufen?«
»Nein.«
»Dann wird es Zeit.«
»Sicher.«
»Wir gehen zu mir. Ich habe Telefon.«
»Nein, mach du das. Ich muss bei der Toten bleiben. Ich habe sie schließlich gefunden.«
Schneider nickte. »Wie du willst, Grete, wie du willst.« Er hob seinen alten Drahtesel auf, schwang sich in den Sattel und radelte in einer fast panikartigen Geschwindigkeit davon…
***
Bei der Volkspolizei bekam man große Augen, als sie die Geschichte der Zeugin hörten. Sie wollten ihr nicht so recht glauben und erst die Untersuchung der Toten abwarten.
Das Ergebnis lag sehr schnell vor. Grete Schulz hockte noch im tristen Büro der Vopos.
»Erwürgt«, sagte der Arzt mit müder Stimme.
»Stimmt das auch?«
»Ja, erwürgt.«
»Und womit?«
»Weiß ich nicht. Ich habe kein Mal von irgendwelchen Händen feststellen können. Dafür
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