0649 - Der Junge von Stonehenge
dass sie sich nicht getäuscht hatte. Nur war der Unbekannte jetzt nicht mehr zu sehen. Dass er sich verborgen hielt, ärgerte und irritierte sie zugleich. Sie fühlte sich zum Narren gehalten, ausgerechnet in ihrem ureigenen Gebiet.
So etwas passte Kara nicht.
Sie ging nicht direkt bis zu den Steinen. Vor diesem Zentrum der Kraft blieb sie stehen.
Nichts rührte sich in ihrer unmittelbaren Umgebung. Die weiter entfernt stehenden Hügel erinnerten in ihrer Formation an die dunklen Buckel irgendwelcher geheimnisvoller Tiere. Der Himmel über dem Land sah aus wie mit schwarzem Samt beklebt. Das Millionenheer der Sterne lag hinter einer Dunstschicht verborgen und schimmerte nur schwach.
Aber da war noch etwas, das sich nicht verbergen konnte und deshalb sehr genau von Kara wahrgenommen wurde.
Das Fremde, das nicht in diese Umgebung hineingehörte. Eine unbekannte Ausstrahlung, nicht direkt gefährlich und böse, aber fremd.
Gleichzeitig damit spürte Kara auch die Übereinstimmung mit dem Fremden, also konnte es so schlimm nicht sein.
Das bereitete ihr Sorgen.
Fremd und bekannt? Sie schaffte es nicht, dieses Paradoxon zu erklären. Es war auch schwer genug, darauf eine Antwort zu finden, beides rückte zusammen und bildete in ihrer Nähe eine Last.
Kara drehte sich auf der Stelle. Die Bewegung war nicht einmal von ihr bewusst gesteuert worden, sie hatte es einfach tun müssen und sah, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.
Aus den nahen Büschen löste sich die Gestalt. Ein Fremder, nicht sehr groß, viel kleiner als Kara.
Kein Mann, ein Junge, fast noch ein Kind. Und ausgerechnet er hatte es geschafft, die magische Grenze, die über diesem Refugium lag, zu durchbrechen.
Wieso?
***
Kara stellte nicht dem Jungen die Frage, sondern sich selbst. Natürlich schaffte sie es nicht, eine Antwort zu finden, die konnte ihr der Junge allein geben, der so ungewöhnlich aussah, nicht in die Gegenwart hineinpasste, aber auch innerhalb dieser Insel fremd wirkte. Er kam ihr vor, als wäre er soeben aus der Vergangenheit entstiegen, um sich in der Gegenwart zurechtzufinden.
Karas rechter Arm hatte beim Anblick des fremden Jungen gezuckt.
Doch sie hob das Schwert nicht an und stellte die Spitze weiterhin schräg gegen den Boden.
Da der Junge nicht redete, blieb auch sie stumm und ließ ihn langsam näher kommen. Nicht sie wollte etwas von ihm, es war umgekehrt.
Schließlich hatte er das Gebiet betreten.
Er fiel auch wegen seiner Kleidung auf. Die Schäfte der braunen Stiefel reichten hoch bis zu den Waden. Wo das Schuhwerk endete, falteten sich die Ränder der mit einem schwarzen und weißen Würfelmuster bedeckten Hosenbeine zusammen. Der Stoff sah aus wie ein Schachbrett, im Gegensatz dazu die braune, kragenlose Hemdjacke, die am Hals endete. Das dunkle Haar des Jungen wuchs halblang, flog über seine Ohren hinweg und auch bis in den Nacken hinein. In Höhe der Taille trug er einen schlichten Gürtel, gegen dessen Schnalle er die linke Hand seines angewinkelten Arms gelegt hatte.
Das Gesicht war fein geschnitten, es hätte auch einem Mädchen gehören können. Dazu passten irgendwie die vollen Lippen, die dunklen Augen, die vollen Wangen, die allesamt für diesen weichen Ausdruck sorgten.
Kara erkannte die Einzelheiten trotz der relativen Dunkelheit. Das Mondlicht schien es besonders gut mit dem fremden Jungen zu meinen, denn es ließ ihn hervortreten wie auf einer Bühne, deren Hintergrund noch im Dunkeln lag.
Er sagte nichts, er stand da und schaute Kara an.
Auch sie sprach kein Wort. Längst hatte sie bemerkt, dass dieser Junge ein besonderer Mensch war, denn ihn umwebte das Flair des Geheimnisvollen.
Nicht nur das. Die Schöne aus dem Totenreich weigerte sich, auf den Besucher zuzugehen. Etwas hielt sie davon ab. Es war wie eine innere Warnung, denn als einen Freund konnte sie den höchstens vierzehnjährigen Besucher nicht akzeptieren.
Sie war plötzlich froh, das Schwert mitgenommen zu haben, obwohl der andere nicht bewaffnet War. Jedenfalls trug er die Waffen nicht offen.
»Wer bist du?«
Kara hatte die Worte sehr langsam ausgesprochen, damit der andere auch alles verstand. Als Antwort erntete sie nur ein Achselzucken. Dann aber drehte der Junge den Kopf, als wollte er ihr ein Zeichen geben. Er hatte zu den Steinen hingeschaut, demnach mussten sie etwas mit seinem Erscheinen hier zu tun haben.
»Kannst du nicht reden?«
Der Junge hob den rechten Arm. Er spreizte die Hand, strich durch sein Haar, und
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