0654 - Das Mondgehirn denkt anders
Inpotronik. „Warum behauptest du, ein Freund von mir zu sein, Tatcher a Hainu?"
Ich überlegte, denn die Frage war gar nicht so leicht zu beantworten. Meine Behauptung, ich sei ein Freund, war ehrlicher Überzeugung entsprungen, aber impulsiv erfolgt, ohne daß ihr eine logische Gedankenkette vorausgegangen wäre.
„Ich bin dein Freund, weil ich mit dir fühle", erklärte ich schließlich zögernd. „Freundschaft ist nicht immer eine Folge exakter Kalkulation und beiderseitiger Vorteile, weißt du!"
„Ich weiß nur, daß eine Freundschaft eine Basis haben muß", erwiderte Nathan, „und daß diese Basis etwas ist, was auf Gegenseitigkeit beruht. Aber in unserem Falle wüßte ich nicht einmal, warum ich deine Freundschaft erwidern sollte."
„Du bist ein denkendes und fühlendes Wesen", sagte ich.
„Genau wie ich auch. Das ist unsere erste Gemeinsamkeit.
Unsere zweite Gemeinsamkeit ist, daß wir beide mit unseren Fähigkeiten dem Wohl der Menschheit dienen. Ich denke aber, es gibt eine weitere, dritte, Gemeinsamkeit, die mir sogar wesentlicher erscheint als die ersten beiden: Wir beide sind freiwillig unfrei, das heißt, wir nehmen Beschränkungen und Opfer auf uns, um dem zu dienen, das wir lieben."
„Es stimmt, daß ich unfrei bin", erwiderte die Inpotronik. „Aber diese Unfreiheit wurde mir aufgezwungen.
Ich bin eingesperrt und verwalte einen riesigen Wissensschatz, aber ich muß ihn anwenden, wie es mir befohlen wird. Was du darunter verstehst, daß du Beschränkungen und Opfer auf dich nimmst, um dem zu dienen, das du liebst, das begreife ich nicht, Tatcher a Hainu."
„Tatcher genügt", erklärte ich, während ich überlegte, wie ich der Inpotronik, einer infolge des Bioplasmas „beseelten" Inpotronik, begreiflich machen könnte, was ich in diesem Fall unter „Liebe" verstand.
„Paß gut auf", sagte ich schließlich. „Die Definitionen für Liebe sind durchaus nicht einheitlich, weder bei Menschen noch bei anderen Intelligenzen. Manche verstehen darunter nur die Gesamtheit ihrer Drüsenfunktionen, das sind die Primitiven.
Echte Liebe geht tiefer, viel tiefer sogar. Echte Liebe stellt keine Forderungen, sondern setzt sich selbst Pflichten."
„Darf ich eine Frage stellen?" warf Nathan ein.
„Selbstverständlich", antwortete ich verwundert. Als wenn Nathan meine Erlaubnis benötigte, um mir Fragen zustellen!
„Alles bewußte Sein hat doch die oberste Pflicht, sich selbst zu erhalten?" fragte die Inpotronik. „Ist das richtig?"
„Das läßt sich, glaube ich, nicht mit wenigen Worten beantworten", erwiderte ich. „Natürlich hat jedes Lebewesen die Pflicht, sich selbst zu erhalten. Aber ich denke, diese Selbsterhaltungspflicht darf nicht zweckfrei sein, denn alles vernunftbegabte Leben im Universum ist zweckgebunden, und alle seine Bestrebungen müssen der Förderung dieser Zwecke dienen und nicht nur der bloßen Erhaltung seiner eigenen Existenz oder der Existenz seiner eigenen Art. Erst der, der davon erfüllt ist, kann selbst auch Erfüllung, Würde und Freiheit finden."
„Du sprichst sehr seltsam für einen Terraner", sagte Nathan.
„Ich bin kein Terraner, sondern ein Marsianer der a-Klasse", entgegnete ich ungewollt heftig.
„Das weiß ich", erklärte Nathan. „Aber ich rechne euch Marsianer der a-Klasse stets mit unter die Terraner, denn ihr stammt schließlich von Erdenmenschen ab."
„Aber wir sind ein viel liebenswerterer Menschenschlag", erwiderte ich. „Nimm doch nur mal dieses tibetische Scheusal Dalaimoc Rorvic. Er ist nicht nur äußerlich häßlich, sondern auch innerlich. Er ist faul, gemein, hinterhältig und..."
Ich brach ab und starrte aus schreckgeweiteten Augen auf den blauhäutigen Zwerg, der wenige Schritte vor mir wie aus dem Nichts aufgetaucht war und eine drohende Haltung einnahm.
„Warum sprichst du nicht weiter, Tatcher?" fragte Nathan. Ich deutete auf den Zwerg. „Seinetwegen", erklärte ich. „Ich bin erschrocken, und ich habe Angst."
„Ich kann nichts wahrnehmen, was dich erschreckt haben sollte", meinte Nathan.
Der Zwerg schnitt eine Grimasse und kam auf mich zu. Er hielt in der rechten Hand ein Krummschwert mit breiter Klinge. Ich wich zurück, aber er folgte mir und hob das Schwert.
„Dein Verhalten irritiert mich", erklärte die Inpotronik. „Wovor weichst du zurück, Tatcher?"
„Siehst du den Zwerg nicht?" rief ich. „Er will mich töten!"
Der blauhäutige Zwerg drang auf mich ein, wobei er sein Schwert schwang, als wollte er
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