0654 - Unter dem Vampirmond
Noir deSars Gesicht in Großaufnahme…
Auch Nicole prägte sich dieses Gesicht ein. Sie würde es nun jederzeit sofort wiedererkennen. Dieses Bild war weit besser als ihr Eindruck aus der vergangenen Nacht.
Während Nicole das Amulett hielt, signalisierte Zamorra dem Inspektor, er solle ihr über die Schulter sehen. So konnte er die Vampirin ebenfalls erkennen. Allerdings beschränkte sich seine Sicht auf ein winziges Bildchen wie bei einem der Mini-Fernsehschirme, wie sie vor einem Jahrzehnt von japanischen Firmen auf den Markt gebracht worden waren. Derjenige, der gerade selbst mit dem Amulett arbeitete wie jetzt Nicole oder vorhin Zamorra, hatte es leichter, weil das dargestellte Szenario direkt in sein Bewußtsein projiziert wurde.
»Zur Ergänzung des Fahndungsfotos«, erklärte Zamorra trocken.
»Sie glauben doch nicht im Ernst, daß es etwas bringt, eine Vampirin zur Fahndung auszuschreiben?« Brunot schüttelte den Kopf.
»Und was wollen Sie in die Mordakte schreiben, wenn Sie es nicht tun?« erwiderte Zamorra. »Alles kann Gaudian auch nicht abfangen. Außerdem bewegt diese Bestie sich auch bei Tageslicht. Wenn ihr Steckbrief überall hängt beziehungsweise ihr Phantombild in jeder Zeitung erscheint, schränkt das ihre Bewegungsfreiheit doch ein kleines Bißchen ein.«
»Bißchen«, murmelte Brunot. »Klingt makaber.«
»Es ist mir völlig egal, wie es klingt«, sagte Zamorra. »Sofern es wirkt.«
Nicole löste sich aus der Zeitschau und gab Zamorra das Amulett zurück. »Ich bringe sie um«, sagte sie leise. »Und wenn es das letzte ist, was ich tue. Wer so tötet wie dieses Vampirmonster, verdient keine Schonung. Selbst Werwölfe quälen ihre Opfer nicht so.«
Zamorra warf ihr einen bedeutsamen Blick zu.
»Schau mich nicht so an«, protestierte sie. »Auch Morano würde ich selbst töten wollen - falls er denn überhaupt noch existiert.«
»Ich verstehe nicht ganz«, warf Brunot ein. »Bringen Sie nicht grundsätzlich alle Vampire um? Immerhin sind es doch dämonische Kreaturen, oder habe ich das bisher immer falsch verstanden?«
»Es gibt Dinge, die gehen über allgemeine Sicherheitsinteressen hinaus«, erwiderte Zamorra.
Auch Nicole äußerte sich nicht weiter dazu. Warum sollte sie Brunot auf die Nase binden, daß sie seinerzeit in Tan Moranos Bett gelandet war? Das ging nur Zamorra und sie etwas an. Es reichte schon, daß sie selbst damit fertig werden mußte, auch wenn Zamorra es ihr verziehen hatte. Aber Verzeihen und Vergessen sind zwei verschiedene Dinge…
»Sie hat ein paar Sachen zusammengepackt und die Wohnung verlassen«, überlegte Zamorra. »Das sieht danach aus, als wolle sie nicht so schnell hierher zurückkehren.«
»Damit stehen wir wieder am Anfang«, brummte Brunot. »Wo sollen wir sie jetzt noch suchen?«
Zamorra betrat erneut das kleine Wohnzimmer. Dort gab es ein Telefon, und daneben lag ein Notizblock nebst Kugelschreiber. »Haben Sie mal einen Bleistift zur Hand, François?« fragte Zamorra.
»Der alte Trick?« Der Inspektor fischte einen Druckbleistift aus der Tasche. Er rieb die Miene leicht über das Papier. In der Tat wurden Buchstaben sichtbar, die sich auf das darunterliegende Papier durchgedrückt hatten, als ein darüber befindlicher Zettel beschrieben und dann abgerissen wurde.
»Nur gut, daß die Leute solche Notizzettel nicht mit Füllfederhaltern oder harten Bleistiften beschreiben, sondern mit Kugelschreibern, bei denen sie kräftig drücken müssen«, brummte Brunot zufrieden. Er betrachtete die Buchstaben, die sich jetzt hell vor dem dunklen Graphit abhoben, das er auf dem Papier verteilt hatte.
»Uhrzeiten…?«
»Moment«, sagte Nicole und nahm ihm den Notizblock aus der Hand. »Sie hat sich Abflugzeiten notiert. Wartet mal, das haben wir gleich.«
Sie griff nach dem Telefonhörer.
»Halt!« warnte Brunot. »Die Wahlwiederholung…«
»Hat dieser Apparat nicht«, hatte Nicole bereits vorher erkannt. »Das ist noch ein Billigtelefon aus der Steinzeit. Vermutlich made in Germany.« Sie tastete eine Ziffernfolge ein, wartete kurz und meldete sich dann. Sie gab die Daten durch, die auf dem verschwundenen Zettel niedergeschrieben worden waren. Dann lauschte sie, bedankte sich und legte wieder auf.
»Ich habe am Flughafen angerufen«, erklärte sie. »Die Vampirin hat unter dem Namen Michelle deSar einen Flug nach Paris gebucht. Die Maschine ist gerade eben gestartet.«
Brunot schnappte nach Luft.
»Wie sind Sie darauf gekommen, Nicole?«
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