0663 - Das Unheil erwacht
ein Hauch, aber sehr intensiv gesprochen worden, so dass Jade einige Male nickte.
»Aber Mutter…«
»Hast du es gehört, Jade?«
»Ja, das schon, doch…«
»Widersprich bitte nicht. Ich habe das Wissen, es steckt in mir. Du mußt achtgeben, Tochter. Du darfst ihm nicht zu nahe kommen, du mußt ihm ausweichen, wenn es dich locken will. Das alles kann ich dir sagen, aber helfen kann ich dir nicht.«
»Das brauchst du auch nicht, Ma.«
»Doch, Kind, doch. Du kannst noch so alt werden, du bleibst immer mein Kind. Eine Mutter denkt da anders. Vielleicht wirst auch du anders denken, wenn du einmal ein Kind geboren hast. Ich kenne mich aus. Ich mag zwar alt sein, aber…«
»Bitte, Ma. Kannst du mir nicht sagen, wovor ich mich in achtnehmen soll?«
»Ich sagte doch. Vor dem…«
»Nein, nein, das ist mir zu wenig. Das Böse ist zu allgemein, verstehst du?«
»Das ist klar, Jade. Leider kann ich dir nicht helfen. Ich bin blind, ich kann nur spüren, fühlen, sehen leider nicht. Wenigstens nicht konkret, doch mein Blick reicht aus, um in andere Ebenen hineinzutasten. Da fällt mir dann auf, wie gefährlich es für dich werden kann, wenn du dich nicht an meine Weisungen hältst.«
»Ich werde sie befolgen, Mutter, das verspreche ich dir. Ich gebe schon acht, wenn ich den Wald betrete. Außerdem ist es mein Weg, den ich immer gehe. Hast du das vergessen?«
»Nein, Kind. Nur waren meine Ahnungen nie so schlimm wie an diesem Abend. Ich habe schon oft etwas gespürt. Bisher ist alles gut gelaufen…«
»Und es wird auch weiterhin gut gehen«, sagte Jade. »Das verspreche ich dir hoch und heilig.«
Alma ließ die Hände ihrer Tochter los. »Ja, ich kann dich nicht umstimmen, Kind.«
»Bis gleich.«
Alma Prentiss nickte. »Wie lange bleibst du weg?«
»Heute nur eine halbe Stunde.«
»Du mußt wissen, was du tust, Jade.«
»Bis gleich.« Jade beugte sich ihrer Mutter entgegen und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Etwas beunruhigt fühlte sie sich schon, als sie durch das Zimmer schritt und auf die Haustür zuging. Die Warnungen waren nicht ohne Eindruck auf sie geblieben. Jade fühlte sich plötzlich unsicher, obwohl sie die Umgebung genau kannte, damit schloss sie den Wald auch ein. Okay, ihre Mutter hatte sie stets davor gewarnt, ihn zu betreten, wenn doch, dann sehr vorsichtig, aber so schlimm wie an diesem Abend war es noch nie gewesen.
Sie öffnete die Haustür.
Nebel war aufgekommen, und kalt war es geworden. In den höheren Lagen hatte es schon geschneit. Jade und ihre Mutter waren bisher von der weißen Pracht verschont geblieben.
Die junge Frau zog die Tür hinter sich zu. Das dabei entstehende Geräusch machte ihr plötzlich Angst. Es hatte sich ihrer Meinung nach so endgültig angehört.
»Unsinn«, sagte sie, lachte und schleuderte den Schal schwungvoll um ihren Hals.
Dann ging sie.
Das ungute Gefühl aber blieb…
***
Es hatte tagsüber zwar nicht geregnet, dennoch war der Boden feucht und weich.
Jade kannte den Weg, den sie gehen musste. Im Tageslicht hätte sie die Färbung der Blätter erkennen können, die bei einem kräftigen Gelb anfing, hinüber in ein helles Rot ging, das erst abgelöst wurde, als die Blätter ein dunkles Violett zeigten.
Wind wehte kaum. Dennoch trudelten einige Blätter zu Boden. Sie blieben auf der feuchten Oberfläche kleben und zerknirschten unter den Tritten der einsamen Spaziergängerin.
Einsam war sie tatsächlich. Jade hatte das Gefühl, das einzige Lebewesen innerhalb des Waldes zu sein. Ansonsten umgab sie nur die dumpfe Stille, die unter den Wipfeln der Bäume lastete. Sie hatte die Hände in die gefütterten Manteltaschen geschoben, den Kopf etwas gesenkt und schaute beim Gehen zu Boden, wobei sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und über gewisse Probleme zu sinnieren, was ihr an diesem Abend leider nicht gelang. Zu tief steckte die Unruhe in ihr. Sie war wie ein Feuer, das sich festbrannte.
Jade wollte nicht direkt zugeben, dass sie die Warnungen der Mutter verrückt gemacht hatten, aber sehr weit weg wollte sie dies auch nicht schieben.
War der Wald anders als sonst?
Als der Pfad an Breite zunahm, die Bäume ein wenig in den Hintergrund traten und an den Rändern dichtem Buschwerk Platz schufen, stoppte sie ihre schlendernden Schritte, blieb stehen und schaute sich um, wobei sie sich auf der Stelle drehte und dem Knistern des Laubs unter ihren Schuhsohlen lauschte. War diese Welt innerhalb des Waldes tatsächlich anders geworden als
Weitere Kostenlose Bücher