0664 - Der Vampir von Denver
daß Sie mir viel von Ihrem großen Wissen weitergeben. Meine Lehrer sagten immer, ich sei eine gute Schülerin.«
Fu Long spürte, daß sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Sein Auftreten, das um vieles selbstsicherer war als das ihrer männlichen Altersgenossen, beeindruckte die junge Frau. Schlimmer, dachte der Vampir, ist es aber, daß ich mich auch zu ihr hingezogen fühle. Ich möchte sie alles lehren, was ich weiß, sie mit ins Theater nehmen, in die Oper, sehen, wie sich ihr Horizont erweitert und sie das Neue in sich aufnimmt.
Er schüttelte den Gedanken ab. So hatte es damals mit Leigh auch angefangen. Aber dieses Mal würde er nicht noch einmal den Fehler machen und seine wahre Existenz jemandem offenbaren. Jin Mei sollte keine Vampirin werden, die sich eines Tages gegen ihren eigenen Erschaffer stellte, nur weil sie nicht in der Lage war, mit ihrer neuen untoten Existenz zurechtzukommen. Er würde nicht zulassen, daß sein Egoismus und der Wunsch nach einer Gefährtin erneut ein Leben vernichtete. Fu Long hatte gelernt.
Er lächelte der jungen Chinesin möglichst nichtssagend zu und stieg langsam die Holztreppe zu seiner Wohnung hoch. Es gab noch viel zu tun, bevor er seine Suche fortsetzen konnte.
Jin Mei ging ihm trotzdem, nicht aus dem Kopf.
***
Etwas regte sich unter der Oberfläche der Stadt. Es, das bereits alt gewesen war, als das Reich der Mitte geboren wurde, drehte sich unruhig in seinem Jahrhunderte währenden Schlaf. Die Menschen erschauerten, als sie seine Bewegung spürten und tasteten nach den frischen oder vernarbten Bißspuren an ihren Hälsen. Wie sie es gelernt hatten, öffneten sie ihren Geist und ließen den Schläfer eindringen. Das Wesen breitete sich in ihnen aus, füllte sie ganz und gar aus, bis nichts mehr an ihre menschliche Existenz erinnerte. Es hatte etwas gespürt, eine Präsenz, die ihm im Traum erschienen war und Grund für seine Unruhe war. Sie störte seinen Rhythmus und das innere Gleichgewicht, das die Menschen seit langer Zeit aufrecht erhielten, um es zu besänftigen.
Im Schlaf sammelte es seine Kräfte. Es war bereit, die Präsenz mit einem einzigen Gedanken zu vernichten, sollte sie es wagen, sich ihm zu nähern.
Dabei wachte das Wesen noch nicht einmal auf.
***
Was man in Denver als Chinatown bezeichnete, hätte den Bewohnern von Städten wie San Francisco oder London nur ein müdes Lächeln abgerungen. Insgesamt bestand das Viertel aus nicht mehr als vier Blocks, die mit ihren schmalen Gassen und zweisprachigen Straßenschildern der Innenstadt einen Hauch von Exotik verliehen.
Zamorra und Nicole schlenderten wie Touristen an asiatischen Supermärkten, kleinen, billigen Hotels und der unvermeidlichen Reihe chinesischer Restaurants vorbei, in deren Schaufenstern gebratene Enten und getrocknete Fische hingen. An kleinen Ständen konnte man die lederartige Fischhaut erwerben, die von Chinesen gerne als Kaugummi-Ersatz benutzt wurde, dem Kauenden allerdings das genaue Gegenteil von frischem Atem verschaffte. Die Luft war erfüllt vom Geruch nach Ingwer und Zwiebeln.
Nicole blieb stehen und betrachtete die Front eines kleinen Restaurants. »Susi's Sushi Bar«, las sie laut vor, »das ist doch wohl eher eine japanische Spezialität.«
Zamorra zuckte mit den Schultern. »Was die Leute haben wollen, bietet man an. Denk doch nur daran, wie erfolgreich die Italiener Pizza exportiert haben, obwohl das im eigenen Land früher ein Gericht für die Armen war. Heute sind sie dafür auf der ganzen Welt bekannt. Wenn die Leute hier in Denver wollen, daß es in Chinatown Sushi gibt, kommt man dem Wunsch eben nach.«
»So wie man den Deutschen auf Mallorca Eisbein mit Sauerkraut verkauft«, schmunzelte Nicole.
Ihr Gefährte lächelte ebenfalls. Dabei streifte sein Blick kurz ein kleines Antiquitätengeschäft direkt neben dem Restaurant. Die Scheiben waren so verdreckt, daß er kaum die Auslage erkennen konnte.
Vermutlich irgendein Ramsch, dachte er, garantiert authentische Jade-Buddhas, die in Wirklichkeit in Puerto Rico hergestellt werden, oder so etwas.
Er wandte sich ab und sprach den Gedanken aus, der ihn schon eine ganze Weile beschäftigte: »Warum ist dieses Viertel so klein? Immerhin waren es doch größtenteils Chinesen, die damals die Eisenbahn quer durch die Rockies gebaut haben, also auch durch Denver. Viele von ihnen haben sich entlang der Strecke niedergelassen und Siedlungen gegründet. Gemessen an der Größe der Stadt, sind diese paar Blocks ein
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