0665 - Vampirstadt Berlin
Er hatte noch eine Frage. »Was ist mit den Toten?«
»Liegenlassen«, sagte ich.
»Na… natürlich, der Herr!« erwiderte er bibbernd und leicht blaß um die Nase.
Es hatte sich selbstverständlich herumgesprochen, daß wir am Ende dieser beiden Menschen nicht unbeteiligt waren. Dementsprechend wurden wir angeschaut.
Manchmal skeptisch, dann wieder ängstlich. Einige Gäste gingen uns sogar aus dem Weg.
Die Atmosphäre hatte sich verändert. Nicht draußen vor dem Hotel, da tobte noch immer die Schlacht zwischen Polizei und Randalierern. Wie Phantome huschten vermummte Chaoten über die Straße und schleuderten Pflastersteine gegen die Ordnungshüter.
Ein unsichtbarer Gast hatte sich klammheimlich zwischen die Hotelgäste gestohlen. Er war auf schleichenden Sohlen gekommen, lautlos, nie zu sehen, höchstens zu fühlen.
Es war die Angst…
Ich erkannte es an den Gesichtern, an den verhaltenen Bewegungen, am Zucken der Augen, wenn sie sich umschauten. Selbst das Personal war davon angesteckt worden.
Das Lächeln der Angestellten wirkte nicht mehr so locker und freundlich, es war viel verkrampfter.
Ich erkundigte mich bei einem jungen Mann, ob noch etwas vorgefallen war.
»Wie meinen Sie das?«
»Nun ja, es geht nicht um die beiden Toten in der Bar. Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«
»Was sollte…?«
»An den Gästen, Mann. Haben Sie welche gesehen, die sich unnatürlich benahmen?«
Er hob die Schultern. »So genau kann ich das nicht sagen. Wir reden auch nicht über Gäste.«
»Dies ist ein Extremfall, begreifen Sie das nicht?«
Er nickte mir zu, bevor er seinen Kopf drehte und mir sein Profil zeigte. »Da, schauen Sie!«
Ich war irritiert, denn die roten Streifen auf der hellen Haut paßten einfach nicht dazu. Sie sahen aus, als hätte jemand mit Nägeln die Haut geritzt. »Was ist das?«
Er zwinkerte mit den Augen. »Von… von einer Frau, einem Gast. Sie wollte mir an die Kehle. Das im wahrsten Sinn des Wortes. Können Sie das begreifen?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Aber es ist so gewesen. Ich habe sie im letzten Moment wegstoßen können. Es war schlimm.«
Konowski stand neben mir und hatte alles gehört. »Können Sie die Frau beschreiben?«
»Ja, das kann ich.« Der Mann überlegte einen Moment und spielte mit einem Bleistift. »Sie war groß, sie hatte dunkles Haar, das sie offen trug, aber im Haar ein rotes Stirnband…«
»Marion!« stieß der Detektiv aus. »Verdammt, Sinclair, das war Marion, meine Schwester.«
»Okay, okay, beruhigen Sie sich bitte. Beruhigen Sie sich. Es geht ja alles klar.«
»Nein, Sinclair, ich…« Er wollte über die Rezeption hinweg greifen und sich den Mann schnappen.
Ich zerrte ihn zurück.
»Erzählen Sie weiter. Wo haben Sie die Person gesehen?«
»Da war in unserem Lager. Ich bin gegangen, um Formulare zu holen. Da hat sie dann gewartet.«
»Also nicht in der Halle?«
»So ist es.«
»War sie denn allein?«
»Ich glaube schon.«
»Wo ist sie hingegangen?«
»Das konnte ich nicht mehr sehen, weil der Strom ausfiel. Es ist alles so furchtbar.«
»Ja, schon gut. Danke jedenfalls.« Ich ließ ihn stehen und trat einige Schritte vor. Mein Blick glitt durch die Lobby, auch Konowski schaute nach. Mittlerweile hatte er ebenfalls einen Blick für Vampire bekommen. So sehr wir uns bemühten, es war keiner der Blutsauger zu sehen. Allmählich bekam ich das Gefühl, daß sie tatsächlich warten wollten, bis Mitternacht eingeläutet war.
»Vielleicht sollten wir noch einmal nach oben fahren und die Zimmer auf der 20. Etage durchsuchen«, schlug der Detektiv vor. Er ging bereits auf den Lift zu, ohne meine Antwort abzuwarten.
Der aber kam von oben.
Nach dem zweiten Schritt blieb Konowski stehen, weil sich die Tür öffnete. Was nun folgte, wirkte auf mich wie einstudiert und kam mir vor wie der Höhepunkt eines Dramas.
Konowski schaute in die Kabine hinein, in der ebenfalls nur die Notbeleuchtung brannte. Trotzdem konnte er die Gestalt dort deutlich erkennen.
Es war eine Frau. Sie trug einen dunklen Hosenanzug, dessen Stoff schillerte. Auf dem Kopf wuchsen schwarze Haare. Das rote Stirnband darin sah aus wie ein breiter Blutstreifen. Vielleicht wegen der dunklen Haare wirkte das Gesicht noch bleicher. Nur die Lippen zeigten eine rote Farbe, oder war es Blut?
Ich hatte sie erkannt, und Konowski erst recht.
»Marion«, ächzte er und sah dabei aus, als wollte er tief in den Boden versinken…
***
Es war Konowskis Schwester, und sie
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