068 - Schreckensgondel der Schneehexe
mit sich. Wo einer mehr besitzen will als der andere, ist er zu jedem
Verbrechen bereit. So war es bei Jako. Er wollte der Herr sein. Er wollte die
anderen schädigen. Solange die Weiden saftig waren und die Kühe gesund, ging es
allen gut. Aber dies sollte nur für Jako gelten. So kam er auf eine Intrige.
Einzelne Weideflächen starben ab, und viele Tiere wurden ohne ersichtlichen
Grund krank. Flarnarda, so ging mit einem Mal das Gerücht um, verstünde sich
nicht nur auf das Heilen, sondern auch auf das Krankmachen. Wer das eine könne,
sei auch zum anderen imstande. Ich wurde als Hexe verschrien und fiel in
Ungnade. Man mied mich, man verfolgte mich. Und als immer mehr Tiere starben,
als die Menschen hungern mußten und es zu rätselhaften Unglücksfällen auf den
Almweiden kam, da machte man mich dafür verantwortlich. Nach einer rauhen
Schneenacht, als wieder drei Bewohner aus der kleinen Gemeinschaft nicht mehr
von den Bergen zurückkehrten und erzählte wurde, daß ich sie in die Irre
geführt hätte, beschlossen sie, sich von mir zu befreien. Flarnarda mußte aus
ihrem Leben verschwinden. Bei Nacht und Nebel drangen sie in meine Hütte ein und schleppten mich hinaus in die Kälte. Vier
Männer hatten sich entschieden, die angebliche Hexe zu töten. Sie hatten sich
einen grausamen Tod ausgedacht. Aber keiner wollte der Mörder sein. Die Natur
selbst sollte mein Henker werden. Sie brachten mich tief in den Berg hinein und
ließen mich dort zurück. Allein in eisiger Kälte, allein, ohne Nahrung, lief
ich durch die stürmische Nacht. Die eisige Luft kroch durch meine dünnen
Kleider, die mich kaum vor der Kälte zu schützen vermochten. Ich suchte
verzweifelt nach einem Unterschlupf, wollte überleben. Den Unterschlupf fand
ich: Eine Höhle, die noch kein Mensch vor mir betreten hatte. Dorthin zog ich
mich zurück. Und im Sterben begann mein neues Leben. Ich verfluchte diejenigen,
die mich in diese Lage gebracht hatten. Jetzt wollte ich wirklich das Böse tun,
dessen man mich bezichtigte, das ich aber nie begangen hatte. Ich selbst konnte
nicht mehr zurück. Im Todesschlaf erwachte mein Geist zu nie gekannter Kraft.
Ich sah die vier Mörder vor mir, die mich in die Einsamkeit der Bergwelt
entführt hatten und inzwischen wohlbehalten in ihre Häuser zurückgekehrt waren.
Dort hatten sie es warm, während ich in der Kälte der Schneehöhle dem eisigen
Tod ausgesetzt war. In der Nacht vor meinem Sterben rief ich den ersten. Ich
erschien ihm im Traum und schickte ihm eine Vision. Er träumte intensiv, daß an
dem Ort, wo sie mich zurückgelassen hatten, Gold zu finden wäre. Ich pflanzte
den Wunsch in ihn, dorthin zurückzukehren und danach zu suchen. Im Morgengrauen
des nächsten Tages brach er heimlich auf. Ich fühlte sein Kommen. Mein Geist
war seltsam frei und unbelastet, er war nicht mehr auf den absterbenden Körper
angewiesen. Ich lockte den ersten Mörder in meine Höhle. Statt des Goldes stieß
er auf die sterbende Flarnarda. Voll Entsetzen wollte er fliehen, aber das ließ
ich nicht mehr zu. Ich hielt ihn fest . Nicht mit meinen Händen. Mit
meinem Geist . Er war indessen so mächtig geworden, daß ich es selbst
kaum fassen konnte. Der Mörder stand vor mir. Ich starb, und konnte ihn dennoch
weiter beobachten, aus meiner neuen, geistigen Sphäre. Er stand wie angewurzelt
in der eisigen Höhle und starb wenige Tage später. Auf die gleiche Weise
vollzog ich meine Rache an den anderen. Nacheinander kamen sie dran. Vier
Mörder…« Vier Skelette… die vier Skelette im Schlafzimmer, hämmerte es
fiebernd in Christel Burgers Gedanken. Sie dachte es nur, aber Flarnarda, die
Rächerin, erfuhr es trotzdem. Gedanken waren geistiger Art, und die Welt des
Geistes war Flarnardas Milieu. »Du hast es richtig erkannt… du bist ihren vier
Skeletten begegnet… ich kann sie noch heute steuern, hin und her schieben, wie
ein Kind sein Spielzeug bedient.«
»Aber…
die Wohnung, die ich gesehen habe… sie ist verschwunden…«
»Es
war die Wohnung, in der ich einst lebte… ich habe sie… in meinen Gedanken… mit
hierher genommen…«
Christel
Burger hörte zwar die Worte, begriff aber alles nicht. »Warum… bin ich hier?«
Während sie das fragte, wunderte sie sich, daß sie die Kälte nicht empfand.
Obwohl sie mit dem Rücken zu einer schnee- und eisbedeckten Wand stand, kroch
die Kälte nicht in ihren Körper.
»Weil
ich dich brauche.«
»Wozu?«
»Kannst
du es dir nicht denken?« klang die Stimme lauernd.
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