0682 - Das Geisterkind
Jahren!
Unbegreiflich, unglaublich, ein fürchterliches Phänomen, mit keinem Begriff erklärbar.
Kate hatte Bücher gewälzt, viel gelesen, sie hatte Ärzte konsultiert, doch auch die waren ratlos.
Einer hatte den Befund ausgesprochen.
»Todessehnsucht, Mrs. Foreman. So etwas gibt es. In letzter Zeit sogar häufiger als früher. Woran es liegt, wird noch untersucht. Bei jungen Menschen ist die Zahl derjenigen sprunghaft gestiegen. Sie können es auch anhand der Selbstmordstatistik ablesen. Denn bei den jüngeren Selbstmördern ist die Zahl im Vergleich sehr hoch.«
»Aber warum gerade Millie? Warum meine Tochter?«
Da hatte der Arzt nur die Schultern gehoben und geantwortet, dass sie es als Mutter vielleicht besser wissen müsste.
Immer wieder musste sie daran denken. Jeden Tag und in jeder Nacht. Sie hatte sich beurlauben lassen. Zunächst einmal für ein halbes Jahr, was ihrer Firma, British Airways, sehr recht gewesen war, denn seit der Golfkrise ging es den Fluggesellschaften nicht gerade gut.
Die Wohnung kam ihr seit Millies Veränderung so düster vor. Wie ein Saal, in den die Menschen hineingebracht worden waren, um auf den Tod zu warten.
Furchtbar war das…
Es gab Momente, da war Millie wieder klar. Da schöpfte ihre Mutter Hoffnung, die bald erlosch, denn Millie fiel immer wieder in ihre alte Lethargie zurück.
Wie sollte das enden?
Millie wusste es. Mit ihrem Tod. Sie hatte der Mutter stets erklärt, dass daran kein Weg vorbeiführte, was Kate Foreman natürlich nicht akzeptieren wollte. Sie suchte noch immer nach einer Möglichkeit, Millie zu retten, aber ihr Verstand sagte, dass sie es nicht schaffen würde. Die andere Kraft war einfach zu stark. Die Todessehnsucht hielt sie in den unsichtbaren Klauen fest.
Im Fenster sah sie ihr Spiegelbild. Kate hatte dichtes, dunkles Haar mit ersten grauen Strähnen darin. Die letzten Jahre hatten Falten in die Haut gegraben, denn sie waren nicht leicht für sie gewesen.
Erst nach der Scheidung hatte sie sich besser gefühlt, dann war die Sache mit Millie passiert.
Sie trug Jeans und einen schlichten dunklen Pullover. In der Hand hielt sie ein leeres Glas. In ihm hatte sich Whisky befunden. Auch jetzt überlegte sie, ob sie es noch einmal füllen sollte, um durch den Alkohol die Sorgen wegzuschwemmen.
Es hatte keinen Sinn. Der Alkohol trieb sie nicht fort, er verdrängte sie nur. Am anderen Tag kehrten sie stärker zurück als zuvor. Es war einfach zu viel, was auf sie einströmte.
»Mummy…«
Kate Foreman schreckte zusammen, als sie die dünne Stimme ihrer Tochter hörte. Sie war durch die offene Tür geschwungen, hinter der das Kinderzimmer lag.
Der Whisky war vergessen. Kate freute sich darüber, dass ihre Tochter nach ihr rief, das hatte die Kleine in den letzten Tagen nicht getan, sondern nur starr im Bett gelegen und die Mutter bei ihren Besuchen stumm angeschaut.
Kate lief über den Teppich, betrat das Zimmer, wollte Licht einschalten und bewegte die Hand auf den Schalter zu, als sie abermals Millies Stimme hörte.
»Bitte, kein Licht, Mum…«
Sie schluckte. »Warum nicht? Willst du im Dunkeln bleiben, Millie? Das finde ich nicht gut.«
»Es sind Kerzen da.«
»Ja, ich weiß…«
»Bitte, zünde sie an. Zwei von ihnen. Und stelle sie rechts und links neben das Bett in Kopfhöhe. Tust du mir den Gefallen?«
»Wenn du willst, Millie. Aber warum…?«
»Das möchte ich dir später erklären. Zünde die Dochte jetzt an. Ich bitte dich darum.«
Kate Foreman fand sich auch im Dunkeln in dem Kinderzimmer zurecht. Die beiden Kerzen waren lang wie Arme, und sie steckten in zwei Standleuchtern. Rechts und links des Bettes waren sie aufgestellt worden, auf Millies ausdrücklichen Wunsch hin, den genauen Grund allerdings hatte sie nicht gesagt.
Zündhölzer lagen bereit. Kates Hände zitterten, als der rote Kopf über die Reibfläche glitt. Ihre Lippen bewegten sich dabei zuckend. Sie sprach nicht, und sie atmete nur durch die Nase. Der erste Docht fing Feuer, die Flamme leuchtete gegen die linke Gesichtshälfte des liegenden Kindes. Dann ging die Frau um das Bett herum und zündete den Docht der zweiten Kerze an.
Ein warmer Schein legte sich über die obere Hälfte der Liegestatt und berührte auch das Gesicht des Mädchens.
Es war ein blasses, ein totenbleiches Gesicht, in dem sich die Lippen kaum von der Haut abhoben.
Eine kleine Nase, sanft geschwungene Brauen, die über blauen Augen schwebten, dazu das blonde Haar, das ein schmales
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