0682 - Das Geisterkind
nicht mehr leuchten, dann bin auch ich tot.« Sie sagte es mit einer fröhlich klingenden Stimme. »Ich habe dich kommen lassen, weil ich von dir Abschied nehmen will, aber es ist kein Abschied für immer, Mum. Daran solltest du denken.« Das Kind holte saugend Luft. Für einen Moment schloss es die Augen, das Licht der beiden Kerzen flackerte und schuf hektische Schatten, die über Gesicht und Decke tanzten.
»Millie…!«, schrie die Frau.
»Keine Sorge, Mum, noch bin ich da, noch.« Die Worte verloren an Kraft. »Es ist mir plötzlich so kalt, Mum, verstehst du? Die Zehen, ich - ich spüre sie nicht mehr. Ich will auch nicht mehr. Der Tod soll kommen, mein Leben ist vorbei, diese Stufe liegt endlich hinter mir, Mummy. Bitte - deine Hand…«
Kate ließ es geschehen, dass Millie zufasste. Diesmal war die Haut noch kälter als beim ersten Tasten. Millie hatte nicht gelogen, der Tod befand sich bereits auf dem Weg zu ihr.
»Bitte, Kind, bitte!« Kates Worte gingen unter in einem gewaltigen Weinschwall.
Aber Millie hörte nicht. Sie lag auf dem Rücken und schaute gegen die Decke, wo das Kerzenlicht zwei rötliche Kreise an der Decke hinterlassen hatte.
Noch zeichneten sie sich dort ruhig ab, bewegten sich kaum, zitterten nur an den Rändern.
Dann trat eine Änderung ein. Die beiden Kreise zuckten, sie wurden von einer gewaltigen Unruhe erfasst, verblassten, tanzten und schwächten sich weiterhin ab.
Kate Foreman erinnerte sich daran, was ihre Tochter gesagt hatte. Sie hatte ihr Lebenslicht in Relation zu den beiden Lichtern der Kerzen gesetzt. Wenn diese verloschen waren, würde auch ihr Leben nicht mehr sein. Sie traute sich nicht, den Blick zu senken, sondern beobachtete die beiden Kreise.
Immer schwächer wurden sie, waren zerrissen, flatterten auseinander, wurden zu Schattenspielen, zu Bruchstücken, die dann wieder aufeinander zuliefen, um einen Moment später abermals in mehrere Teile zerhackt zu werden.
Im selben Rhythmus vernahm sie Millies Atem.
Hektisch, flach und gleichzeitig keuchend. So hatte sie noch nie zuvor einen Menschen atmen gehört. Es war einfach schlimm, und auf ihrem Rücken lag der eisige Schauer der Angst.
Das Grauen hielt sie gepackt. Nicht Millie empfand die Todesfurcht, sondern ihre Mutter, die nicht mehr wusste, wie sie dem Schrecken begegnen sollte.
Millie entglitt ihr.
Noch einmal starrte sie zur Decke.
Wie klein waren die Kreise geworden. Nur noch ein schwacher Abglanz der beiden normalen.
Und dann?
Ein letztes Zucken, wie ein stummer Aufschrei, dann Schatten an der Decke, dann war es vorbei.
Nichts mehr - aus, Dunkelheit…
Sekunden vergingen.
Kate Foreman saß in ihrer starren Haltung, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Nur aus dem Wohnraum drang ein schwaches Licht über die Schwelle.
Totenlicht…
»Millie…?«
Sie erhielt keine Antwort.
»Millie!« Der Name - ein Schrei!
Plötzlich wurde Kate bewusst, was geschehen war. Sie hörte nichts mehr von ihrer Tochter, kein Seufzen, keinen Atemzug, nichts. Nur diese verfluchte, unnatürliche Stille.
»Millie…!« Ein dritter, verzweifelter Schrei drang aus ihrem Mund, dann brach sie über dem starren Körper ihrer Tochter zusammen…
***
Alles war so kalt - die Haut, die Haare, das Laken. Als wäre die Kälte aus einem Grab gestiegen, um den Menschen zu umklammern und um ihn nie wieder loszulassen.
So kalt…
Kate wusste nicht, wie lange sie in dieser unnatürlichen Haltung verbracht hatte, aber ihr war klar, dass Millie nicht mehr mit ihr sprechen würde.
Heute nicht, morgen nicht, übermorgen nicht.
Niemals mehr!
Aus dem Mund der Frau drang ein erbarmungswürdiger Laut. Ein tiefes, grauenvolles Stöhnen, das all das Leid in sich barg, das Kate Foreman in diesen fürchterlichen Minuten empfand. Es war ihr noch nicht richtig klar geworden, dass sie sich allein mit einer Toten befand, das direkte Bewusstsein wehrte sich gegen diese Tatsache, doch tief im Innern erklang eine Stimme, die ihr erklärte, dass es kein Zurück mehr gab.
Millie war tot!
Irgendwann erhob sich Kate. Sie drückte ihren Oberkörper zurück und merkte, dass auch sie anfing zu frieren, obgleich im Zimmer die Heizung nicht ausgestellt worden war.
Es war wohl der seelische Schock, der sie dermaßen hatte frieren lassen. Sie schaute gegen die Wand, und die Kälte strich über ihren Nacken hinweg wie ein Nebelstreif.
Alte Geschichten kamen ihr in den Sinn. Vielleicht war es die Seele ihrer Tochter, die sich noch im Raum aufhielt
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