0688 - Das Hohe Volk
das zu ihrem großen Heiligtum führte. Sorgsam wusch er sich Gesicht und Hände, dann trat er durch das Tor und stand vor einer steinernen Treppe.
Cylas wusste, dass man die Stufen schon aus einer Entfernung von mehreren Tagesreisen sehen konnte. Jetzt, in einer Nacht, die nur von einem der beiden Monde erhellt wurde, schien sich die Treppe im Nichts zwischen den Sternen zu verlieren.
Der Turm, in dem das Hohe Volk lebte, war nicht zu erkennen.
Cylas kniete vor der Treppe nieder und berührte die unterste Stufe mit seiner Stirn. Mehr als diese Berührung war keinem normalen Stammesmitglied gestattet. Nur die, welche vom Hohen Volk auserwählt worden waren, durften die Treppe emporsteigen, um im Turm zu leben und vollkommene Glückseligkeit zu genießen.
Wie jeder andere wünschte auch Cylas sich nichts sehnlicher, als eines Tages zum Hohen Volk gerufen zu werden.
Aber bitte nicht in den nächsten Tagen, dachte er beinahe scherzhaft. Ich habe noch viel zu tun.
Doch solche Veränderungen wie die Erfindung des Rades interessierten die Bewohner des Turmes mehr, als Cylas ahnte.
***
»Ich hoffe, du hast einen guten Grund für diese Aktion«, sagte Zamorra zur Begrüßung, als er und Nicole aus dem Fahrstuhl traten. »Wir haben noch nicht einmal den ersten Akt gesehen.«
Robin musterte den Parapsychologen und seine Lebensgefährtin einen Moment lang ungläubig.
Zamorra trug einen schwarzen Smoking, Nicole hingegen ein Abendkleid, für das dem Chefinspektor außer dem Wort atemberaubend nichts einfiel.
»Es ist neun Uhr morgens«, sagte er irritiert.
»Nicht überall auf diesem Planeten«, gab Nicole zurück, während sie den Gang zum Autopsieraum hinuntergingen.
Robin kannte die beiden schon seit einiger Zeit, aber manche Dinge, die für sie selbstverständlich waren, erschienen ihm immer noch unmöglich.
Dazu gehörten auch die so genannten Regenbogenblumen, die an verschiedenen Orten der Welt wuchsen und über die Fähigkeit verfügten, Menschen von einem Blumenfeld zum Nächsten zu bringen - und das ohne jeden Zeitverlust.
Voraussetzung war nur, dass man eine klare bildliche Vorstellung des Ortes hatte, zu dem reisen wollte und dass dort ebenfalls Blumen wuchsen.
Bis jetzt hatte Robin die Regenbogenblumen nur als nützliches Instrument in weit entfernten Krisensituationen kennen gelernt und sich nie Gedanken darüber gemacht, dass man sie auch einsetzen konnte, um beispielsweise in Sydney in die Oper zu gehen.
»Tut mir leid, wenn ich euch den Morgen… Abend versaut habe, aber ich verspreche, dass euch das hier interessieren wird.«
»Lass mich raten: Es ist eine Leiche«, sagte Zamorra ohne großen Enthusiasmus. In Gedanken tippte er auf ein Werwolf- oder Vampiropfer. Dämonen hielten sich normalerweise von ihm fern und räuberten nicht gerade in Lyon, wo der Dämonenjäger praktisch Heimspiel hatte. So ignorant waren nur die, die nicht an der Höllenpolitik beteiligt waren - niedere Vampire, Werwesen oder Geister.
Auch wenn Zamorra fest daran glaubte, dass jedes Menschenleben, das dem Bösen zum Opfer fiel, eins zu viel war, fiel es ihm in diesem Moment schwer, die Energie für die Jagd auf ein solches Wesen aufzubringen.
Die letzten Wochen waren hart gewesen. Zuerst hatte er sich in Montana beinahe selbst in den Erschöpfungstod getrieben, dann war er zu allem Überfluss auch noch Opfer einer irren Hetzjagd geworden, die ihm erneut alles abverlangt hatte. [1]
Der Flugzeugabsturz, die geflügelten Wesen aus indianischen Legenden in einem abgeschirmten Dorf, in dem die Zeit hundert Jahre lang stehen geblieben war… Der Versuch, im Krankenhaus von Billings wieder zu Kräften zu kommen, und prompt die Entführung durch Stygia, die Fürstin der Finsternis, in eine andere Dimension! Es war beinahe über seine Kräfte gegangen, und er war heilfroh, dass Nicole und er mit dem Leben davongekommen waren und den Weg zurück zur Erde geschafft hatten. Doch selbst das war ihnen nicht mehr aus eigener Kraft gelungen.
Ein seltsames Wächterwesen, in seiner Funktion dem Zauberer Merlin nicht unähnlich, hatte die beiden Menschen zurückgeschickt.
Danach hatten er und Nicole eigentlich beschlossen, ein paar Tage in Australien zu verbringen, den allmählich beginnenden Frühling auf der Südhalbkugel der Erde zu genießen und sich einfach nur zu entspannen.
Aber jetzt sah es so aus, als ob daraus wieder einmal nichts werden würde.
Wie fast immer…
»Was macht denn der Polizist vor der Tür?«, fragte
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