0696 - Im Bann des Verfluchten
in der Mitte des großen Gemäldes auch so überdeutlich zu erkennen.
Manon lag.
Wie hingestreckt wirkte sie. Oder wie gefällt, dachte Colette und erschrak über den eigenen Gedanken.
Manon lag auf dem Rücken, den Kopf ein wenig erhoben und zum Betrachter hingedreht. Das Gesicht hatte der Künstler haargenau nachgezeichnet. Manon sah aus, als würde sie schlafen. Selbst die beiden Grübchen in den Wangen waren zu erkennen.
Colette floss ein Schauer über den Rücken, der mittlerweile schweißnass war.
»Du kannst dir auch das dritte Bild anschauen und das Vierte ebenfalls!«, hörte sie Rafugil sagen.
Sie nahm die Stimme kaum zur Kenntnis, ging aber weiter. Zwischen den einzelnen Lichtspots lastete die Finsternis dick wie ein Tuch. Colette hatte das Gefühl, als müsste sie sie jedes Mal zur Seite schieben, um weitergehen zu können.
Vor dem dritten Bild blieb sie stehen. Im Hintergrund lauerte noch immer der Maler. Es bereitete ihm Freude, den Schrecken und die Angst der Betrachterin zu erleben.
Alle drei Bilder standen auf großen Staffeleien, und sie mussten es auch sein, um die mächtigen Gemälde zu halten.
Ihre Knie zitterten noch stärker, als sie vor dem letzten Bild stoppte. Sie sah Valerie, die Jüngste, die Blonde mit den langen Haaren, die wie eine Flut den Kopf umgaben und erst auf dem Rücken allmählich ausliefen.
Valerie stach aus dem Bild am stärksten hervor, allein weil sie eine so blasse Haut hatte.
Sie trug ein langes Kleid und sah darin so unschuldig aus. Der Mund war sogar zu einem Lächeln verzogen, einen Arm hatte sie ausgestreckt, und in diesem Kleid sah sie so aus wie ein Mädchen, das über eine Maiwiese läuft, um Blumen zu pflücken.
Auch sie war hervorragend getroffen worden.
»Du kannst noch weitergehen, Colette.«
»Ja…« Sie hörte sich sprechen und hatte das Gefühl, es würde ein Roboter reden.
Sie brauchte nur ein paar Schritte, um das neue Ziel zu erreichen. Dann blieb sie stehen.
Das Bild war noch nicht vollendet. Es fehlte genau das Zentrum, der Mittelteil.
Um diese leere Fläche herum gruppierten sich die Farben. Bei ihnen dominierte keine. Rot, grün, blau und auch ein schmutziges Weiß flossen ineinander und bildeten Linien, Streifen und Kreise, die ineinander verschlungen waren.
Plötzlich machte ihr die weiße Leinwand in der Mitte Angst. Colette wusste genau, dass sie dort gemalt werden sollte. Für sie war das vierte Bild bestimmt.
Obwohl nicht einmal eine Minute vorbei war, hatte sie das Gefühl, dass Stunden vergangen wären.
Der kalte Schauer blieb auf ihrem Rücken, gleichzeitig hatte sich ihr Blut erhitzt und trieb ihr den Schweiß aus den Poren, aber sie traute sich nicht, die Hand zu heben und sich die Schweißperlen vom Gesicht zu wischen.
Hinter ihr bewegte sich der Maler. Sie hörte seine schleifenden Schritte.
»Nun?«
»Ja«, sagte sie und nickte dabei. »Ich, weiß, weshalb Sie die Fläche nicht bemalt haben.«
»Noch nicht!«, flüsterte er gegen ihren Nacken. »Ich habe sie noch nicht bemalt, weil mir eine vierte Person fehlte. Und das bist du, meine Freundin.«
Colette wünschte sich noch weiter weg. Stattdessen stand sie auf der Stelle, lauschte ihren Gedanken nach, die durch ihr Hirn rasten, und versuchte, Zeit zu schinden. »Warum vier?«, fragte sie flüsternd. »Warum ausgerechnet vier Bilder?«
»Es gibt vier Himmelsrichtungen, es gibt vier Elemente, für jedes eine, meine Liebe.«
»Was eine?«
»Eine Opfergabe!«
Diese Antwort ließ sie noch mehr erstarren. Sie kam ihr so verflucht endgültig vor, denn sie hätte einen anderen Begriff erwartet. Modell, aber nicht Opfergabe.
Was sollte sie sagen?
»Erschreckt?«
Sie nickte.
Er berührte sie an den Schultern und ließ seine Hände darauf liegen. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich habe nur die dunklen Seiten der Seele und die der Welt hervorgeholt. Ich habe andere Räume gezeichnet, ich habe den Wirrwarr erschaffen, der nicht jedem zugänglich ist. Ich bin derjenige, der…«
»Hören Sie auf, Rafugil. Ich weiß, dass Sie ein besonderer Künstler sind. Sie haben diese Frauen so echt gemalt, so verdammt echt. Sie haben Ihnen Modell gestanden, man sucht sie, die Frauen sind verschwunden. Die Polizei hat keine Spur von ihnen entdecken können. Sagen Sie mir, wo Sie die Mädchen versteckt halten.«
Sie hatte sich nicht getraut, den Begriff Leichen zu verwenden. Vielleicht lebten sie ja noch, vielleicht waren sie einfach weggelaufen oder hausten in einem anderen
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