0698 - Karneval des Todes
immer Karneval«, sagte der Einheimische mit einem schiefen Grinsen. »Der Signor und die Signorina sind gewiss auch deshalb hier.«
»Sicher.«
Zamorra hatte nicht vor, zu erzählen, dass ein Gesicht in seinem Kaminfeuer ihn um den Venedigbesuch gebeten hatte.
Die Menschen neigten leider dazu, alles, was nicht direkt in ihre enge Vorstellungswelt passte, für verrückt zu erklären. Das war in Venedig nicht anders als in Frankreich und überall sonst auf der Welt. Und normal war immer nur das, was die jeweilige Kultur als üblich ansah.
Während Zamorra die Fahrt bezahlte, gab der Fahrer ihm noch schnell die Adresse eines erstklassigen Kostümverleihers, der »zufällig« sein Schwager war.
Dann standen die beiden Dämonenjäger auf der lichtdurchfluteten Piazza. Sie hatten nur leichtes Handgepäck dabei.
»Eigentlich sollten wir ja abgeholt werden«, witzelte Nicole und tippte mit der Stiefelspitze auf das Kopfsteinpflaster. »Wo bleibt er denn, der G…«
Sie unterbrach sich selbst, denn ein riesiger klobiger Schatten war auf sie gefallen.
Zamorra drehte sich um.
Lautlos war das Wesen herangekommen. Es war mindestens drei Meter groß und sah aus wie das grobe Modell eines Menschen, von einem Bildhauer aus Ton geformt.
Immerhin konnte die Gestalt sprechen. Die Stimme klang voll und wohltönend.
»Guten Abend, Signor Zamorra und Signorina Nicole. Einen schönen Gruß von Signora Claudia Salvador, meiner Herrin. Ich bin Emilio. Wenn Sie mir bitte folgen würden…«
***
Auf den zweiten Blick wirkte Emilio nicht besonders bedrohlich. Er war eben ein Golem, ein künstlicher Mensch, aus Lehm geschaffen. Wenn man sich daran erst einmal gewöhnt hatte, gab es keine Probleme.
Nicole wunderte sich trotzdem, dass die Venezianer und Touristen nicht schreiend vor dieser klobigen Gestalt die Flucht ergriffen. Hielten sie seine Erscheinung vielleicht für ein Karnevalskostüm?
»Das Bild liegt immer im Auge des Betrachters«, sagte Emilio, als ob er Nicoles Gedanken gelesen hätte. »Sehen Sie nur!«
Der Golem deutete auf eine Schaufensterscheibe, an der sie gerade vorbeigingen. Galant hatte der künstliche Mensch das Gepäck der Gäste genommen.
In der spiegelnden Glasscheibe erblickten Zamorra und Nicole sich selbst. Und außerdem einen durchschnittlich aussehenden jungen Mann, der ihre beiden Reisetaschen trug.
»Das ist der Zauber meiner Herrin«, verkündete der Golem stolz. »Die normalen Menschen sehen in mir nur einen Mann.«
»Und warum erkennen wir in Ihnen den Golem?«, hakte Nicole nach. »Weil wir leichte übersinnliche Fähigkeiten haben?«
»So ist es, Signorina Nicole.«
Der Golem führte die beiden Dämonenjäger durch die kostümierten Menschenmassen zu einem Bootsanleger.
»Wenn Sie bitte in der Gondel Platz nehmen wollen…«
Mit vollendeter Höflichkeit bat der Golem Nicole in das schmale, schwarze Boot mit dem typischen Bugsteeven.
Die Französin war begeistert. Sie hatte ein Faible für altmodisch-romantische Gondelfahrten durch die geheimnisvollen Kanäle von Venedig.
Zamorra setzte sich neben sie. Emilio sprang auf das Heck des Fahrzeugs und machte die Leinen los.
Eigentlich hatte Zamorra befürchtet, dass die Gondel unter dem Gewicht des drei Meter großen Lehmmenschen sofort versinken würde. Doch das geschah nicht. Vermutlich war auch hier wieder Magie im Spiel.
Emilio stieß die Gondel vom Ufer ab.
»Ich hoffe, Sie erwarten nicht, dass ich singe«, sagte der Golem. »Danach ist mir nicht zu Mute. Die Situation ist sehr ernst. Wir sind froh, dass Sie so schnell kommen konnten.«
Der Gondoliere aus Lehm schmetterte also nicht »O sole mio«. Trotzdem kam die Fahrt über den Canal Grande den beiden Dämonenjägern wie eine Szene aus einem Kitschfilm vor.
Sie fuhren unter der legendären Rialto-Brücke hindurch. Die kunstvollen venezianischen Palazzi reihten sich aneinander.
Hinter den Arkadenreihen, den schmalen Bögen, Säulen und Pilastern verbarg sich der märchenhafte Reichtum, den die Seerepublik Venedig einst angesammelt hatte.
»Wer ist dieser Dottore?«, fragte Zamorra den Golem-Gondoliere. »Ein Dämon, das habe ich schon erfahren. Aber was weiter?«
»Er ist das gefährlichste Wesen, das ich kenne«, erwiderte der Lehmmensch mit dunkler Stimme. »Es ist ein Wunder, dass wir noch leben.«
Aus dem Mund eines Golems klang diese Aussage unfreiwillig komisch. Er selbst existierte ja nur dank eines magischen Schöpferwortes, das seine Herrin ihm vermutlich auf die
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