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07 - Old Surehand I

07 - Old Surehand I

Titel: 07 - Old Surehand I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Geschichte oft in meiner Gegenwart erzählt; nie aber ist es mir eingefallen zu sagen, daß ich selbst der unglückliche Held derselben bin. Ich habe das im stillen mit mir abzumachen versucht. Heute jedoch, da wir uns an derselben Stelle befinden, soll es einmal vom Herzen herunter, und ihr mögt mir nun sagen, ob man mich einen Mörder nennen kann.“
    „Nein, nein!“ rief es rundum. „Du bist vollständig unschuldig. Aber wie ist's mit dem Comanchen? Er entkam?“
    „Nein. Wir fanden ihn gar nicht weit von hier im Steingeröll, wo das Pferd gestrauchelt war und ihn abgeworfen hatte. Ihr könnt Euch denken, daß es da anstatt einer Leiche zwei gegeben hat. Das ist das Gesetz des Wilden Westens; sprechen wir nicht darüber!“
    „Und das Gold, die Nuggets! Wir wollen natürlich wissen, welche Schätze Ihr damals aus dem Cañon mitgenommen habt!“
    „Weit weniger als der vortreffliche Anfang vermuten ließ. Es war, als habe ein Racheengel das Gold tief ins Erdinnere verschwinden lassen. Seit meine Kugel den Apachen traf, wurde die Ausbeute von Tag zu Tag geringer, bis sie endlich ganz aufhörte. Wir gruben und arbeiteten noch wochenlang, doch vergeblich. Und was wir mitnahmen, das hat nicht lange vorgehalten; es ist bald alle geworden – beim Wein und beim Spiel. Nur eins ist mir geblieben und wird mich bis an mein Ende nicht verlassen, nämlich die Erinnerung an den Augenblick, da mein Blei den Roten vom Pferd riß. Dieses Bild schwebt mir immer und immer vor, und dazu gellt mir im Ohr der Todesschrei. Es schüttelt mich. Komm, wir wollen fort! Ich mag den Ort nicht länger sehen!“
    Er stand langsam und schwer auf und schüttelte sich, als ob er der bisher auf ihm gelegenen seelischen Last ledig werden wolle. Als er dann mit der Hand nach dem Zügel griff, um aufzusteigen, hielt ich ihn zurück und sagte:
    „Eure Kameraden haben schon ihre Meinung ausgesprochen, daß Ihr unschuldig seid; nun hört auch, was ich sage, Mr. Hawley.“
    „Nun?“ fragte er in einem Ton, als ob er auch von mir nicht die geringste Erleichterung erwarte.
    „Ich will Euch eine Geschichte, eine wahre Geschichte erzählen, die sich drüben in Deutschland, meiner Heimat, zugetragen hat.“
    „Was kann mir Eure deutsche Geschichte nützen?“
    „Vielleicht doch etwas; hört sie nur an! Zwei Schieferdecker hatten auf der Spitze eines sehr hohen Kirchturms eine neue Wetterfahne anzubringen; die dazu nötigen Leitern waren tags vorher angelegt worden, ehe man die alte Fahne abgenommen hatte. Der eine Schieferdecker war ein alter, erfahrener Meister, der andre sein Sohn, der eine Frau und vier Kinder hatte. Sie stiegen höher und höher, von Sprosse zu Sprosse, der Alte voran, der Sohn hinterdrein, beide mit einer Hand sich festhaltend und mit der andern die schwere Wetterfahne tragend. Unten stand eine Menschenmenge, um lautlos, mit stockenden Pulsen und selbst fast schwindelig, der waghalsigen Arbeit zuzuschauen. Da hört man oben einen Schreckensruf erschallen; der Sohn hat ihn ausgestoßen; der Vater antwortet ruhig und ermahnend; der Sohn ruft wieder, und gleich darauf stößt die Menge einen einzigen, vielstimmigen Schrei des Entsetzens aus, denn der Alte hat den Sohn, der ihn am Fuß faßte, mit einem kräftigen Tritt von der Leiter geschleudert, so daß er in die Tiefe stürzt und dort zu einem wirren Haufen von Fleisch und Knochen zerschellt.“
    „Ist so etwas möglich! Der Mörder seines eignen Sohns!“ rief Hawley aus.
    „Nicht vorschnell, Sir; hört weiter! Unten am Turm gibt's natürlich Szenen einer Aufregung, welche nicht beschrieben werden können; oben aber steigt der Alte weiter in die Höhe, die Fahne nur allein tragend. Bei der Spitze angekommen, stellt er sich auf den Knopf und steckt die Fahne mit einer unglaublichen, wahrhaft riesigen Anstrengung aller seiner Kräfte auf die Spindel. Dann kommt er so ruhig und kaltblütig, als ob nichts geschehen sei, langsam und sicher wieder herabgestiegen, Leiter um Leiter über sich von den Haken lösend und in die Dachfenster des Turms schiebend, bis er im Schalloch, der Glockenstube verschwindet. Vor der Turmtür wartet die wütende Menge, bereit, ihn zu lynchen; er kommt aber nicht. Man dringt in den Turm und findet ihn oben in der Glockenstube, wo er in dem Augenblick, in dem er den festen Boden unter sich gefühlt hat, besinnungslos zusammengebrochen ist. Er wird nach Haus gebracht und erwacht nur, um im hitzigen Fieber monatelang von dem entsetzlichen Moment zu

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