07 - Old Surehand I
phantasieren, wo er gezwungen gewesen ist, seinen Sohn in den entsetzlichen Tod zu stürzen. Die Kunst der Ärzte und seine trotz des Alters kräftige Natur retten ihn; aber sobald die Beine noch kaum imstande sind, ihn zu tragen, geht er auf das Gericht, um sich dem Staatsanwalt zu überliefern. Was glaubt Ihr wohl, wie das Urteil gelautet hat, Mr. Hawley?“
„Wie soll es gelautet haben! Es gibt hier nur eine Strafe: für Sohnesmord den Tod“, antwortete der Gefragte.
„Ist das wirklich Eure Meinung, Sir?“
„Natürlich. Man kann ja gar keine andre haben.“
„O doch!“
„Nein. Er hat seinen Sohn mit voller Absicht in den Tod gestoßen.“
„Nicht etwa in der Aufregung?“
„Schließt das die Absicht aus?“
„In diesem Fall wohl nicht. Aber der Fall läßt sich noch ganz anders beurteilen.“
„Möchte doch wissen, wie!“
„Er erregte natürlich ungeheures Aufsehen und wurde überall besprochen, mündlich und auch in den Zeitungen. In juristischen Kreisen war man der Ansicht, daß die Anklage wegen Mordes unbedingt aufrecht zu erhalten und der Alte unbedingt zu verurteilen, dann aber der Gnade des Monarchen zu empfehlen sei. Das Publikum verweigerte dem Täter zunächst jede Entschuldigung, lernte aber gar bald, als es die Gründe seines Handelns erfuhr, anders denken. Ja, er hatte die Tat mit Überlegung begangen, aber was hatte ihn dazu veranlaßt? Der Sohn hatte ihm plötzlich zugerufen, er sei vom Schwindel ergriffen worden, so daß sich alles um ihn zu drehen scheine. ‚Mach die Augen zu, und halte dich fest, bis es vorüber ist; ich warte!‘ mahnte ihn der Alte, der an einen kurz vorübergehenden Anfall dachte. ‚Ich kann nichts festhalten; ich fühle nichts‘, schrie der Sohn, indem er die Fahne fahren ließ und den Fuß des Alten ergriff. Dieser erkannte mit Schaudern, daß es kein Warten und kein Vorübergehen gab; es war einer jener Anfälle, die den Betreffenden vollständig entmannen, in denen Hilfe unmöglich ist; der Helfer wird nur selbst mit ins Verderben gezogen. In einem einzigen kurzen Augenblick vergegenwärtigte er sich seine fürchterliche Lage. Die schwere Wetterfahne in der Linken, mußte er sich mit der Rechten festhalten; am Fuß hatte er den Sohn hängen; er fühlte die zentnerschwere Last, die ihn von der Leiter weg und in die Tiefe ziehen wollte; er wußte, daß er dies nur wenige Augenblicke aushalten könne und dann mit hinab müsse. Ja, hätte er unter dem Sohn gestanden, so hätte er ihn stützen und vielleicht, vielleicht doch retten können, so aber war dieser unbedingt verloren. Sollte der verhängnisvolle Schwindel zwei Menschenleben kosten anstatt nur eins? Sollte die arme Familie außer dem einen Ernährer auch noch den zweiten verlieren? War es nicht Selbstmord, sich mit hinabreißen zu lassen, wo er sich doch, freilich nur sich allein, halten konnte? Da rief der Sohn: ‚Herrgott, ich fühle die Leiter nicht mehr; ich stürze, ich falle!‘ Er hing nur noch am Fuß des Vaters. Da erkannte dieser, daß das Gräßliche nicht zu umgehen sei, daß es geschehen müsse; er stieß den Sohn mit einem kräftigen Tritt von sich ab und von der Leiter. Er hörte den vielstimmigen Schrei der Zuhörer; er sah nicht hinab; es flimmerte ihm vor den Augen; sein Herz wollte stillstehen; aber er mußte stark bleiben und raffte sich mit Aufbietung aller seiner Kräfte zusammen. Wie im Traum, einem Zustand seelischer Stumpfheit stieg er empor und vollendete seine Aufgabe. So stieg er dann auch wieder herab und barg die Leitern, eine nach der andern; aber sobald er sich dann in der Glockenstube befand, verließen ihn die Kräfte, und er brach besinnungslos zusammen. Habt Ihr nun über seine Tat noch dieselbe Ansicht wie vorhin, Mr. Hawley?“
„Hm! Wie Ihr es erzählt, klingt es nun freilich anders.“
„Das fühlten bald auch alle, die ihn vorher verurteilt hatten. Er bekam einen ausgezeichneten Verteidiger, und dieser tat seine Pflicht. Gelehrte, Sachverständige, Universitätslehrer mußten ihre Ansichten über den Schwindel und seine Wirkungen einreichen; eine ganze Anzahl von Dachdeckern, Zimmerleuten und andern Bauhandwerkern wurde vernommen. Essenkehrer, sogar ein Seilkünstler, meldeten sich freiwillig, um ihr Urteil zugunsten des Angeschuldigten abzugeben. Sie alle, ohne eine einzige Ausnahme, behaupteten, daß er nicht anders habe handeln können, daß sein Sohn unbedingt verloren gewesen sei. Kurz, er wurde freigesprochen und aus der Untersuchungshaft
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