07 Von fremder Hand
auf uns herab.
Simon Fitzstephen saß neben Jack Montfort an dem runden Tisch in Fitzstephens Wohnzimmer und übersetzte laut, was Montfort soeben in seinen Notizblock geschrieben hatte. Im Kamin knisterte ein Feuer, die Stereoanlage spielte leise John Rutters Bearbeitung von William Byrds Miserere mei, und sie hatten die schweren Samtvorhänge zugezogen, da der Abend schon nahte.
Nachdem er Jack unter dem Vorwand zu sich eingeladen hatte, ihre genealogischen Nachforschungen fortführen zu wollen, regte Simon an, dass er noch einen Versuch unternehmen solle, Edmund um weitere Informationen zu bitten. Fitzstephen war davon überzeugt, dass die Anwesenheit der anderen den Prozess des automatischen Schreibens behinderte, und es hatte den Anschein, als sollten die Ergebnisse dieser Sitzung ihm Recht geben.
Thurstan war der erste normannische Abt von Glastonbury gewesen; König William hatte ihn nach der Eroberung aus Caen kommen lassen und als Nachfolger von Aethelnoth eingesetzt. Nach Simons Berechnungen musste Edmund dreizehn oder vierzehn gewesen sein, als Thurstan im Jahre 1077 das Amt übernahm.
Wieder bewegte sich Jacks Hand über das Papier: Die Kirche wurde nie vollendet... sie war verflucht. Eines Tages begab sich der Abt in den Kapitelsaal und führte Reden gegen die Mönche. Er sandte nach seinen Mannen, und sie fielen schwer bewaffnet über uns her. Entsetzt liefen wir in alle Richtungen davon. Manche flohen in die Kirche, wo sie sich sicher glaubten. Doch das Böse... an jenem Tag... Die Normannen brachen in den Chor ein... Einige schossen Pfeile in Richtung des Altarraumes, wo sie in dem Kruzifix über dem Alter stecken blieben. Viele... Mönche wurden verwundet... drei wurden getötet. Blut floss vom Altar auf die Stufen und von den Stufen auf den Steinboden herab...
»Wo warst du zu der Zeit?«, fragte Simon leise.
Ich hatte mich im Skriptorium versteckt, zwischen den Büchern. Doch ich sah alles... hinterher. Ich wusch die Leichen der Getöteten... und weinte um sie. Ich weine immer noch um das, was uns der Abt an jenem Tag geraubt hat.
»Was war das? Was hat ihnen der Abt weggenommen?«
Aber Jacks Hand lag jetzt reglos auf dem Papier, seine Finger entspannten sich, und kurz darauf blinzelte er.
»Ist irgendwas gekommen?«, fragte er, indem er den Stift hinlegte und sich streckte.
»Sehen Sie selbst.« Simon ging im Zimmer auf und ab, während Jack las, denn obwohl seine Übersetzungen besser geworden waren, dachte er immer noch nicht so mühelos auf Latein wie Simon.
Als Jack das Ende der Seite erreicht hatte, blickte er auf. »Da ist etwas, was ich nicht verstehe. Warum hat Thurstan >Reden gegen die Mönche geführt Hatten sie etwas Falsches getan?«
»Nein. Thurstan war zwar ein gottesfürchtiger Mann und hat viel gebaut, wie alle Normannen, doch er verbot den Mönchen, weiterhin den gregorianischen Gesang zu pflegen, der seit undenklichen Zeiten zur Tradition der Abtei gehört hatte, und ersetzte ihn durch einen französischen Choral von William von Fecamp. Als die Mönche dagegen protestierten, griff er sie an. Sie müssen verstehen, dass diese Neuerung für die Mönche keine Bagatelle war - der Gesang war ein fester Bestandteil ihres täglichen Lebens.«
»Und Edmund hat das alles miterlebt...«, meinte Jack nachdenklich. »Vielleicht war es ja noch mehr als das... wissen Sie noch, wie Winnie sagte, als sie Edmunds Schilderung des Gottesdienstes gehört habe, sei sie von einem gewaltigen Gefühl der Freude und der Harmonie überwältigt worden? Sie hat mir später erzählt, sie habe eine Vision gehabt, in der sie selbst in der Kirche war und die Mönche singen hörte...«
Würden die Wunder denn nie ein Ende nehmen, dachte Simon. Die pragmatische Winifred Catesby wäre der letzte Mensch gewesen, dem er eine Vision zugetraut hätte. Zu Jack sagte er: »Sie hat sie singen hören... Glauben Sie... Könnte es der Choral sein, den wir für Edmund zurückgewinnen sollen?«
»Das klingt ein wenig weit hergeholt. Die Gesänge sind doch sicherlich sehr gut dokumentiert -«
»Nein, warten Sie.« Simon war plötzlich ein Gedanke gekommen. Er trat an den Bücherschrank und fuhr mit dem Finger über die Buchrücken, bis er den gesuchten Band gefunden hatte. Doch die bloße Berührung hatte seinem Gedächtnis schon auf die Sprünge geholfen, und er hielt das Buch ungeöffnet in der Hand, während er sagte: »Es gibt eine keltische
Weitere Kostenlose Bücher