070 - Schreie des Grauens
hätte.
Sie gab keine Antwort.
Dorian fühlte, wie eine eisige Leere in ihm hochkletterte. Sie war zumindest schwer verletzt. Er überlegte einige Sekunden lang, dann entschied er sich.
Er hob Mata vorsichtig hoch und nahm sie auf die Arme. Dann ging er langsam und mit noch größerer Vorsicht auf den nächsten breiteren Weg zu. Nach zwei Schritten stieß er gegen etwas, das davonrollte und mit einem dumpfen Laut gegen einen Grabstein prallte. Er ging weiter, hatte nicht gemerkt, daß der Kopf des toten Wiedergängers über Kies und Gras in das offene Grab hineinrollte. Seine Schritte wurden schneller. Er passierte mit dem bewußtlosen oder toten Mädchen das Tor und hielt ein Taxi an.
„Ich habe dieses Mädchen gefunden. In welche Klinik würden Sie sie bringen?"
„Universitätsklinik auf jeden Fall", antwortete der Taxifahrer. „Ich fahre, so schnell es geht." „Danke", murmelte Dorian.
Er saß links hinten. Der Körper des Mädchens lag auf den Sitzen und bewegte sich nur, wenn der Wagen um Kurven bog, beschleunigte oder abgebremst wurde. Schultern und Kopf ruhten auf Dorians Oberschenkeln und in seinen Armen. Er wußte nicht, ob Mata tot war oder noch Überlebenschancen hatte.
Das Taxi bremste nach einer Irrfahrt - für Dorian war es eine Fahrt durch eine weitgehend unbekannte Stadt - vor einem Klinikportal. Dorian versuchte, so behutsam wie möglich, das Mädchen aus dem Wagen herauszuheben. Der Fahrer war offensichtlich gewohnt, derartige Fahrten zu unternehmen, denn er half mit unerschütterlicher Ruhe.
Dorian trug Mata, die keinerlei Lebenszeichen von sich gab, in die Aufnahmestation. Eine halbe Stunde später lehnte er an der Wand eines nach Desinfektionsmitteln riechenden Korridors und wartete. Er war aufgeregt, gleichzeitig todmüde und innerlich gelähmt. Er wußte nicht, was geschehen war. Die Ärzte beschäftigten sich mit dem Mädchen.
Hekate hatte gesiegt. Ihr Sieg war aber nicht vollkommen. Fred, der Untote, der Wiedergänger, war endgültig tot. Er würde niemals wieder in das Reich der Lebenden eintreten können, was auch immer geschah und versucht wurde. Auch Dorian lebte noch. Er war weder Gewinner noch Verlierer. Aber was war mit Mata?
Dann erst dachte er an Coco und die anderen im Team.
Ein Arzt kam auf ihn zu und zog sich die grüne Mütze vom Kopf. „Das Mädchen da - haben Sie es gebracht?"
Dorian nickte. „Ja. Was können Sie mir sagen? Wie geht es ihr? Lebt sie überhaupt noch?"
Der Arzt, nicht älter als Dorian, blickte ihn schweigend und mit der professionellen Neugierde des Mediziners an. „Ihre Freundin?"
„Gewissermaßen. Sie ist überfallen worden."
„Eigentlich gehört sie in eine andere Station. Sie hat einen Schock."
„Ich weiß. Nicht meine Schuld. Wie geht es ihr?"
„Schlecht. Wir haben sie behandelt. Die Verletzungen sind nur oberflächlich."
„Ist sie bei Bewußtsein?"
„Nein. Sie schläft. Mindestens achtundvierzig Stunden."
Der Arzt schien Dorian für alles verantwortlich zu machen.
Dorian hob die Schultern und zündete sich die vorletzte Zigarette an.
„Gibt es Probleme mit Geld, Namen und so weiter?"
Der junge Mediziner steckte sich eine französische Zigarette an und deutete auf ein Büro am Ende des Korridors. „Dort hinten. Nicht meine Sache."
„Sie lebt also?"
„Noch", antwortete der Arzt. „Wenn Sie sie besuchen wollen, kommen Sie am besten nicht vor übermorgen. Wir lassen sie schlafen. Vielleicht kommt sie durch. Wenn sie den Schock überwindet, ist sie reif für die psychiatrische Abteilung."
Dorian streckte eine Hand aus und schüttelte die Hand des Arztes. „Danke, Doktor. Ich erledige alles andere."
Um drei Uhr oder etwas später erreichte Dorian sein Hotel. Er versuchte, einzuschlafen, aber seine Erinnerungen und Vorstellungen waren so deutlich und aufregend, daß er erst gegen Morgen in einen unruhigen Schlaf fiel und wie gerädert erwachte.
Er brauchte eine Weile, um sich zurechtzufinden. Dann stürmten wieder die Vorkommnisse der letzten Nacht auf ihn ein. Er wußte nicht, was er tun sollte.
Er zwang sich dazu, am späten Vormittag ein Gespräch nach London anzumelden. Fünf Minuten später hob er den Hörer ab und vernahm die Stimme Coco Zamis'.
„Wir sind in Sorge, Dorian. Warum hast du dich nicht gemeldet? Hat man dir nicht ausgerichtet..." Dorian sagte rauh und schuldbewußt: „Ich war beschäftigt. Ich werde euch später alles berichten. Es war Hekate, die mich hierhergelockt hat. Es war eine tödliche
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