072 - Das Horror Palais von Wien
dem Haus war alt. Die hölzernen Treppen, der Fußboden des Flurs,
der aussah, als wäre er aus dünnen Felsplatten zusammengefügt, und die Wände,
an denen die spröde Farbe sich schälte. Zum Hof hin fielen schmale Erker auf,
die dem Haus einen unverwechselbaren Stil gaben. In der ersten Etage des Hauses
gab es insgesamt drei Wohnungen. Nur zwei waren bewohnt. Eine vom Hausmeister,
eine zweite von einem Makler, der nur für zwei Stunden am Tag Sprechzeiten
hatte, wie ein handgeschriebenes Schild an der Tür verkündete. Kunaritschew
mußte ein zweites Mal klingeln, ehe sich hinter der Wohnungstür etwas tat.
Schlurfende Schritte näherten sich. Dann war das Rasseln einer Kette zu hören,
die von innen vorgelegt wurde. Die Tür öffnete sich handbreit Das Gesicht eines
alten, gebückt stehenden Mannes tauchte auf. Sein schütteres Haar war eisgrau,
die Haut tief eingefurcht, die Lippen waren schmal und hart. »Ja? Sie
wünschen?« fragte er barsch.
»Ich
hätte gern eine Auskunft. Sie sind der Hausmeister, nicht wahr?«
»Es
steht schließlich an der Tür. Dann wird’s wohl stimmen«, erwiderte der Alte
mürrisch… Aus kleinen, flinken Augen musterte er den fremden Besucher. »Wohnt
hier ein Herr namens Kunaritschew?« fragte Iwan deutlich. »Nein. Würde er hier
wohnen, stünde sein Name neben einem Klingelknopf.«
»Manche
Leute vergessen das« wandte X-RAY-7 ein. »Solange ich hier Hausmeister bin,
wird für Ordnung gesorgt. Dazu gehören auch anständig beschriftete
Namensschilder, damit jedermann gleich unten erkennen kann, wer hier wohnt.«
»Vielleicht
ist er erst eingezogen?« blieb Iwan freundlich, ohne sich von der Unfreundlichkeit
des Hausmeisters anstecken zu lassen. »Hier ist niemand frisch eingezogen. Die
Mieter im Haus leben seit Jahrzehnten hier. Tut mir leid, ich hätte Ihnen gern
Auskunft gegeben.«
»Vielleicht
habe ich auch den falschen Eingang erwischt«, reagierte Iwan Kunaritschew
schnell, der verhindern wollte, daß sein Gegenüber ihm die Tür vor der Nase
zuschlug. »Schon möglich«, nickte der Hausmeister und blickte über den Rand
seiner altmodischen, gelblichen Hornbrille den Fremden an. »In der Gasse stehen
schließlich noch mehr Häuser. Haben Sie denn keine Hausnummer?«
»Leider
nein. Nur den Hinweis, daß er im Palais Cernay wohnen soll. Dies ist doch das
Palais, nicht wahr?«
»Es
ist ein Teil davon, ein Anbau… im Palais selbst wohnt niemand. Es steht seit
über hundertundfünfzig Jahren leer…«
●
Unverrichteterdinge
ging Kunaritschew davon. Die Rätsel um die Person, die in seiner Gestalt bei
der Wiener Zollabfertigungsstelle seinen Tabak abgeholt hatte, waren nicht
kleiner geworden. Jemand kannte ihn, und dieser Jemand bezweckte etwas mit dem
gestohlenen Tabak. Trotz intensiven Nachdenkens kam X-RAY-7 jedoch nicht
dahinter, was das sein könnte. Er verhielt einige Sekunden in der düsteren
Toreinfahrt und ließ die Blicke noch mal über die verwitterte Fassade des
Palais schweifen. Er nahm die äußeren Merkmale bewußt und genau in sich auf,
und einen Moment war es ihm, als hätte er im ersten Stockwerk hinter den
blinden Scheiben einen Schatten gesehen. Beim zweiten Hinsehen jedoch war er
nicht mehr zu erkennen, und Iwan war der Meinung, daß er sich getäuscht hatte.
Wind spielte in den Wipfeln der Kastanienbäume, und offenbar hatten
schattenwerfende Blätter auf dem blinden Fenster seine Aufmerksamkeit erregt.
Er wäre anderer Ansicht gewesen, hätte er einen Blick hinter das fragliche
Fenster werfen können. Dort standen in der Tat zwei Personen und blickten in
den Hof hinunter.
Es
waren der Mann mit dem harten Gesicht und die rassige Schwarzhaarige, die
Kunaritschews Tabak mit einem ungewöhnlichen Trick von der Zollstelle geholt
hatten. Die Hände des beobachtenden Mannes öffneten und schlossen sich erregt.
» Das ist er… wie er leibt und lebt«, sagte er heiser. »Ich hatte sein
Aussehen immer vor Augen… Ich habe mir in all den Jahren nichts sehnlicher
gewünscht, als ihm wiederzubegegnen. Die Stunde der Abrechnung ist gekommen…
Wir haben ihn tatsächlich nach Wien gelockt, und hier, Marina, soll sich sein
Schicksal erfüllen.«
»Spring
nicht gleich aus dem Fenster, Boris, nichts übereilen. Wir haben den Fisch an
der Angel.«
»Und
auf dem Trockenen wird ihm die Luft ausgehen«, nickte Boris Rakow. »Er ist
neugierig geworden… er merkt, daß etwas nicht stimmen kann.«
»Jetzt
dreht er ab und geht davon«, murmelte Rakow rauh.
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