0728 - Angst in den Alpen
Leute in den Wohnungen. Sie haben Angst vor dem anderen. Wer jetzt hinausgeht, hat einen Grund. Nicht nur die Nacht ist schlimm, auch der Abend, Herr Sinclair.«
»Das mag ja alles stimmen, aber wo sollte Trudi Ihrer Meinung nach hingelaufen sein?«
»Ich dachte, sie sei ins Schützenhaus gegangen.«
»Ist sie das?«
»Nein.«
»Und was haben Sie gedacht, als Sie sie dort nicht fanden?«
Er runzelte die Stirn und schaute zur Seite. »Daß Sie beide sich heimlich verabredet haben. Daß Trudi eine Möglichkeit gefunden hat, aus Glatsch zu verschwinden. Es hat ihr hier nie besonders gut gefallen. Es war ihr alles zu eng, sie wollte immer hinaus. Trudi hat ein anderes Temperament, wenn Sie verstehen.«
»Ja, das kann ich mir denken.«
»Und genau deshalb fürchte ich mich irgendwie. Ich möchte Sie bitten, Trudi…«, er verstummte.
Seine Stimme war plötzlich gestockt, weil ein dicker Kloß in seinem Hals lag. »Ich und meine Frau… also wir glauben, daß wir sie verloren haben.«
Auf der einen Seite tat mir der Mann leid, auf der anderen aber mußte er einen Grund für seine Verdächtigungen und Befürchtungen haben. Danach fragte ich ihn.
Der Bürgermeister hob die Schultern. »Was soll ich da sagen? Wissen Sie, ich bin anders aufgewachsen. Ich bin Bauer, ich vermiete in meinem Haus zwei Ferienwohnungen. Man hat mich hier zum Bürgermeister gemacht, ich stehe mit beiden Beinen im Leben. Das will ich von Trudi nicht behaupten.«
»Was hält Sie davon ab?«
Er wiegte den Kopf. »Trudi ist ein Einzelkind, und so hat sie sich auch verhalten.«
»Genauer bitte.«
»Mit Freundinnen war nicht viel los. Heute sagte man introvertiert, das habe ich mal gelesen. So ähnlich hat sich Trudi auch verhalten. Sie war sehr in sich gekehrt, sie hat kaum mit uns gesprochen. Sie ist immer ihren eigenen Weg gegangen.«
»Wo führte der hin?«
»In die Vergangenheit, Herr Sinclair.«
Jetzt war ich überrascht. »Wie bitte? Das verstehe ich nicht. Sie kann doch nicht…«
»Gedanklich. Sie ist ein Mädchen, das sich mit der Natur intensiv beschäftigt hat, aber auch mit gewissen Sagen und Legenden, die sich um dieses Tal ranken.«
»Liege ich richtig, wenn ich dabei an die Zwerge denke.«
»Das liegen Sie, Herr Sinclair«, flüsterte er und wischte nervös seine Handflächen an der Wolljacke ab. Er hatte sich mir offenbart, was ihm bestimmt nicht leichtgefallen war, und ich verstand die Sorge des Vaters wegen seiner Tochter plötzlich.
»Können Sie mir mehr darüber erzählen?«
»Wenn Sie Zeit haben.«
»Dafür immer. Aber nicht hier, Herr Lechner. Wir sollten in das Schützenhaus gehen.«
Der Vorschlag begeisterte mich nicht. Er schaute zum Eingang. »Aber dort liegt der Tote.«
»Wird es uns stören?«
Lechner grinste schief. »Sie haben Humor, Herr Sinclair. Sie sind Polizist und mit so etwas aufgewachsen. Ich aber lebe normal. Das ist schon komisch.«
»So normal leben sie auch nicht. Wenn Sie mal vergleichen, sind in Ihrem kleinen Ort mehr Morde passiert als in New York oder London, natürlich auf die Einwohnerzahl bezogen.«
Er schaute in die Luft. Der Himmel schien sich in das Tal hineinzudrücken. Der Vollmond stand im Westen wie ein blasses Auge. Sterne schimmerten. Die gewaltige Klarheit und die Nähe des Himmel überwältigten mich Alles war wie zum Greifen nahe.
Ich schlug dem Bürgermeister vor, es zunächst allein zu versuchen. »Wenn ich okay sage, kommen Sie.«
»Abgemacht.«
Ich rechnete natürlich damit, daß uns unheimliche Stunden bevorstanden, doch daran ließ sich nichts ändern. Ich wollte den Bürgermeister auch mit diesen unheimlichen Tatsachen konfrontieren. Vielleicht gelang es ihm so, seine Angst zu überwinden. Außerdem mußte er endlich wissen, was genau gespielt wurde. Er konnte sich nicht immer in sein Schneckenhaus aus Vermutungen und Halbwahrheiten zurückziehen.
Die rechte Hälfte der Eingangstür schwang mir entgegen, als ich sie aufzog.
Dahinter lag die Dunkelheit.
Stumm, drohend, gefährlich…
Ich atmete tief durch. Meine Augen bewegten sich. Etwas später sah ich die Schatten. Da stand der große Feuerwehrwagen, ich sah an der rechten Seite auch den Tisch, nur die dort liegende kleine Leiche verschmolz mit der Dunkelheit.
Es war niemand da, der sich auf mich zustürzte. Die Fenster hoben sich in schwachgrauen Umrissen ab. Unter meinen Sohlen knirschte der Schmutz als ich eintrat.
Dann drehte ich mich um.
Draußen war das Licht besser. Die Gestalt des
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