0742 - Mein Bruder, der Dämon
Erzählung. »Es heißt, er hätte seinen ärgsten Feind getötet. So ein Rassistenschwein, das ihn immer wegen seiner Hautfarbe geärgert hat. Jedenfalls wurde die Sache vom Direktor vertuscht. Offiziell ist dieser Schüler - Goodwin hieß er, glaube ich - vom Dach gestürzt.« Larry senkte seine Stimme. »Aber unter den Schülern ist eine andere Geschichte überliefert worden, von Jahrgang zu Jahrgang. Goodwin ist an Verletzungen gestorben, die kein Tier ihm zufügen konnte. Und auch kein Mensch. Und erst recht nicht ein Sturz aus dem dritten Stockwerk.«
***
Mathura Road, New Delhi, Indien
Asha Devi träumte immer noch.
Die Inspectorin lag in ihrem Bett, unter einem engmaschigen Moskitonetz. Zum Glück war sie nur mit einem dünnen Nighty bekleidet. Außerdem hatte sie im Schlaf die Bettdecke weggeschoben. So konnte der leichte Nachtwind besser kühlen, denn ihre Träume hatten Asha in Schweiß ausbrechen lassen.
Sie erlebte immer noch Szenen aus dem Leben ihres Bruders mit.
Sura Devi und Jim Kelly wollten sich gerade vom Internatsgelände schleichen, als sie eine gehässige Stimme hörten.
»Hey, Scheißinder!«
»O nein«, seufzte Jim Kelly »Schon wieder dieser Nigel…«
Nigel Goodwin und einige seiner Kumpane hatten Sura und Jim offenbar aufgelauert. Der Widerling hatte eine großflächige Visage, sein bulliger Körper war ungefähr genauso breit wie hoch.
»Was willst du, Goodwin?«, fragte Ashas Bruder. Falls er Angst hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
»Ich wollte fragen, warum du noch nicht die Klos geputzt hast, Devi. Dafür bist du und deinesgleichen doch nach England gekommen, oder? Um für uns Weiße die Klos zu putzen.«
»Wenn mich nicht alles täuscht, bist du diese Woche mit Reinigungsdienst dran, Goodwin. Jedenfalls steht es so am schwarzen Brett. Aber sei vorsichtig, wenn du die Klos putzt. Falls du reinfällst, bist du hinterher nicht mehr so weiß.«
Nigel Goodwin hielt für einen Moment den Atem an. Dann schlug er ohne Vorwarnung zu. Seine Schmiedehammerfaust ließ Suras Unterlippe aufplatzen.
Asha Devi ballte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste. Gerne wäre sie dazwischengegangen, um ihrem Bruder gegen diesen Brutalo beizustehen. Aber das ging natürlich nicht. Sie musste mit ansehen, wie ihr Bruder zusammengeschlagen wurde.
Zwei von Goodwins Kumpanen hielten Jim Kelly fest, der seinem Freund zu Hilfe kommen wollte.
Als Sura am Boden lag, kam Nigel Goodwin zu dem irischen Jungen hinüber und verpasste ihm zwei gewaltige Maulschellen.
»Du kannst von Glück sagen, dass du ein Weißer bist, Kelly! Sonst würdest du auch eine richtige Packung kriegen. Obwohl, so ein richtiger Weißer bist du Kartoffelfresser ja auch nicht…«
Goodwin boxte Suras Freund in den Magen. Jim Kelly klappte zusammen wie ein Gartenstuhl.
Hohn lachend verschwanden der Schläger und seine Kumpane, die ihm kriecherisch auf die breiten Schultern klopften…
Nach ein paar Minuten erhob sich Sura Devi schwankend. Er wischte sich mit einem großen Taschentuch, das die Initialen S.D. trug, das Blut aus dem Gesicht.
»Hoch mit dir, Jimmy!«, raunzte Sura seinen Freund an. Obwohl es ihn viel schlimmer erwischt hatte als den irischen Jungen, war er schon wieder auf den Beinen. Die Schmerzen schienen ihm kaum etwas auszumachen. »Nigel Goodwin hat soeben sein Todesurteil unterschrieben!«
Asha Devi lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie den Tonfall ihres Bruders im Traum hörte. Abgesehen von der hohen Stimmlage sprach Sura genauso wie Ashas verhasster Vater.
Überhaupt wirkte Sura Devi in seinem Hass wie eine Miniaturausgabe des grausamen und machtgierigen Politikers, der ihn gezeugt hatte.
In diesem Moment begriff Asha instinktiv, dass ihr Bruder wirklich zu einem Dämon werden würde. Er würde alles tun, um seinen Hass zu befriedigen. Genau wie ihr Vater buchstäblich beinahe über Leichen gegangen wäre, um sich bei den Göttern einzuschmeicheln. Er hatte sie, Asha Devi, als hilfloses kleines Kind den Göttern opfern wollen…
Die Inspectorin schob diesen Gedanken gewaltsam zur Seite. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das, was am 3. September 1970 in Schottland geschehen war.
»D… du willst Goodwin killen, Sura?«
»Darauf kannst du wetten! Niemand schlägt einen Devi ungestraft! Ich bin in die Brahmanen-Kaste hineingeboren. Es ist schon schlimm genug, wenn mich so eine Kanaille auch nur anfasst.«
»Aber wie willst du es machen? Hast du ein Messer,
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