075 - Die Schöne und der Höllenwolf
Hand schnell zurück.
Ein dünner Schweißfilm glänzte auf Sharons Stirn. Sie konnte sich schon fast nicht mehr beherrschen. Ob alt oder nicht alt; menschliches Leben war in dieser Frau, und das sollte sie nicht behalten.
Mrs. Norman begab sich zum Telefon. Bevor sie abhob, warf sie Sharon einen fragenden Blick zu. »Sind Sie für jemanden zu sprechen?«
Dem blonden Mädchen fiel ein, daß sie sich mit John Taylor verabredet hatte. John wäre ihr als Opfer viel lieber gewesen.
»Ja«, sagte sie deshalb schnell.
Die Reinemache-Frau griff nach dem Hörer. »Bei Miss Griffith«, meldete sie sich. Sie lauschte mit offenem Mund, hielt die Sprechmuschel dann zu und sagte: »David Vaughn.«
Auch er war Sharon als Opfer viel lieber als Mrs. Norman, deshalb nickte sie rasch.
»Einen Augenblick, Mr. Vaughn«, sagte Mrs. Norman und übergab den Hörer. Dabei berührte sie Sharons Hand, und sie zuckte zusammen. Kalt, sehr kalt war Sharon Griffiths Hand. Merkwürdig. Dabei sah das Mädchen aus, als hätte es Fieber. Sie hätte glühendheiß sein müssen.
Der erste Laut, den Sharon hervorbrachte, war ein gepreßtes Knurren. Sie räusperte sich und sagte dann so freundlich wie möglich: »Hallo, David. Schön, daß du anrufst.«
Er sollte das Gefühl haben, daß sie sich über seinen Anruf freute, daß sie ihn schon ein wenig vermißt hatte, und es gelang ihr ziemlich gut, ihm dieses Gefühl zu vermitteln.
»Ich würde gern mal wieder ein bißchen Zeit optimal anlegen«, sagte der Politiker.
»Freut mich, daß du dabei an mich denkst«, sagte Sharon lächelnd.
Alda Norman zog sich zurück. Es gehörte sich nicht, anderen beim Telefonieren zuzuhören. Außerdem merkte sie, daß sie hier heute fehl am Platz war. Sie zog ihre Kleiderschürze aus und hängte sie an den Haken, brachte den Staubwedel an seinen Platz und holte ihren Mantel.
»Wann möchtest du kommen?« fragte Sharon den Politiker.
»Ich könnte in zwanzig Minuten bei dir sein.«
»Hört sich gut an. Und wie lange kannst du bleiben?«
»Leider nicht sehr lange.«
»Also wie immer. Ich freue mich trotzdem auf dich«, sagte Sharon, und das war nicht gelogen.
Es würde nicht lange dauern, bis er so war wie sie, dafür würde sie sorgen.
»Ich bereite mich inzwischen auf dich vor«, sagte sie. »Ich habe eine Überraschung für dich.«
Er lachte. »Was ist das?«
»Wenn ich es dir am Telefon verraten würde, wäre es keine Überraschung mehr. Verschwende deine Zeit nicht mit Telefonieren. Setz dich in deinen Wagen und komm her. Ich sage nur soviel: Noch nie hat sich die Fahrt so sehr gelohnt wie heute, das kann ich dir versprechen.«
Er lachte wieder. »Du machst mich neugierig. Ich bin schon unterwegs. Einmal werden wir etwas tun, was wir noch nie getan haben, Sharon: Wir werden eine ganze Nacht zusammen verbringen.«
»Das wäre großartig«, sagte Sharon und legte auf.
Die Reinemache-Frau stand in der Tür und verabschiedete sich. Sie gab dem Mädchen einige Ratschläge und wußte doch, daß Sharon keinen einzigen befolgen würde.
Sie sagte, sie würde übermorgen kommen, und Sharon war das recht. Das Mädchen lächelte geheimnisvoll.
Übermorgen wirst du sterben, Alda Norman, dachte sie.
Und die Frau verließ das Haus, ohne zu ahnen, daß sie nur ganz knapp dem Tod entronnen war.
***
Harold Janssen arbeitete in Holborn. Man hatte alte Häuser abgerissen und war nun im Begriff, ein wolkenkratzerähnliches Gebilde zu errichten. Ziemlich hoch ragte das Stahlgerüst schon in den grauen Himmel. Der Wind wirbelte mehligen Staub hoch und warf ihn mir ins Gesicht, als wäre ich hier nicht erwünscht.
Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie sich die Gemüter an diesem Großprojekt erhitzt hatten. Wochenlang waren die Zeitungen voll mit diesem Thema gewesen.
London hatte sich in zwei Lager gespalten. Pro und Kontra hatte sich bekriegt, und zwar mit äußerst harten Bandagen. Auf der einen Seite standen jene, die für den Fortschritt waren, auf der anderen Seite die Denkmalschützer.
Jede Partei hatte ihre Argumente, die sich nicht schlecht anhörten.
Ein Mann hatte es damals verstanden, sich wirkungsvoll in Szene zu setzen: David Vaughn. Seine Reden waren schließlich das Zünglein an der Waage gewesen. Er führte die Entscheidung herbei, daß die alten Häuser abgerissen und mit dem Bau dieses Bürohausgiganten begonnen werden konnte.
Sein Trumpf hatte Arbeitsplatzbeschaffung gelautet. Damit hatte er alles überstochen, was die anderen
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