0752 - Lauras Leichenhemd
immer wieder sein…«
Die letzten Worte ihres Helfers waren versickert, und Laura stand auf der Stelle wie in Trance. Sie fühlte sich eingebunden in die Fesseln einer anderen Macht, aber sie kam sich nicht vor wie eine Gefangene. Sie war zu einer Mächtigen geworden, die den normalen Kreislauf eines kleinbürgerlichen Lebens endlich verlassen hatte und sich nun größeren Aufgaben zuwenden konnte.
Ein Luftzug streifte sie.
Laura war derartig tief in den eigenen Gedanken versunken, dass sie auf ihn nicht geachtet hatte. Erst als sie die Stimme hörte, schreckte sie auf.
»Mit wem hast du gesprochen, Laura?«
Sie zuckte zusammen und drehte sich um.
Ein Schatten stand in der offenen Speichertür und schaute genau in Lauras Richtung. Es war ihr Vater!
Umberto Saracelli trug noch seine Berufskleidung, einen schwarzen Smoking, und darüber ein weißes Hemd. Der Ausschnitt sah aus wie ein helles Dreieck, das unterhalb des Gesichts in der Luft schwebte und sich nicht bewegte. Sein Gesicht war deshalb nur mehr zu ahnen. Nach der ersten Frage stellte er keine zweite mehr, denn er wartete auf eine Antwort seiner Tochter.
Die war brutal aus ihren Träumen und Vorstellungen gerissen worden. Die eine Frage nur hatte alles zerstört. Sie fühlte sich wie ein Stück Papier, das in der Mitte eingerissen worden war. Aber sie musste sich zusammenreißen. Sie durfte sich nichts anmerken lassen, und wenn es dann sein sollte, würde sie auch den letzten Schritt wagen. Sie trug das Hemd, sie war nur mehr äußerlich die Laura Saracelli, im Innern dachte sie völlig anders, da hatte sich bereits der Geist ihres geheimnisvollen Helfers festgesetzt und diktierte ihr Verhalten.
Es war ihr Vater, der sie da überrascht hatte. Nur sah sie ihn schon nicht mehr als Vater an, sondern als einen Menschen, der ein Opfer sein würde.
Neutral eben…
»Ich hatte dich etwas gefragt, Laura, und ich wiederhole die Frage noch einmal.«
»Das brauchst du nicht«, erwiderte sie leise. »Ich habe mit keinem gesprochen.«
Umberto nickte. »Aha. Warum hörte ich dann deine Stimme?«
»Ich redete mit mir selbst.«
»Warum?«
»Nur so, Papa. Oder siehst du jemanden?« Saracelli kam vor. Er schaltete sogar das Licht ein, was Laura überhaupt nicht gefiel, denn nun verblassten die Kerzenflammen. Sie waren nur mehr Makulatur.
Umberto Saracelli betrat den Speicher mit vorsichtig gesetzten Schritten und schaute sich auch genau um. Er konnte hinsehen, wo er wollte, er sah keinen Menschen außer seiner Tochter. Ärger zeichnete sich in seinem blassen Gesicht ab, in dem der breite Mund und die gekrümmte Nase besonders hervorstachen. Das Haar war zurückgekämmt und dicht oberhalb der Stirn schon ziemlich licht.
Laura beobachtete ihn. Sie war sicher, dass er nichts entdecken würde, und sie glaubte auch nicht daran, dass sich noch jemand aus dem Unsichtbaren melden würde.
Saracelli blieb stehen.
Diesmal konnte er seine Tochter direkt anschauen. Nur die beiden Kerzen trennten sie noch. Sein Blick wanderte an ihrer Gestalt hinab.
Er fing am Kopf an, glitt hinunter bis zu den Füßen, und sehr langsam schüttelte Umberto den Kopf. »Du bist nicht mehr die, die ich kenne, Laura«, flüsterte er. »Ich… ich … sehe eine Fremde vor mir. Stimmt das?«
»Warum?«
Saracelli wischte mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn.
»Schau dich doch mal an. Sieh in den Spiegel, Laura. Dann wirst du erkennen, dass du etwas an deinem Körper trägst, das einfach nicht zu dir passt. Es ist ein Kleid, das ich nicht kenne. Ein Poncho, ein Hemd mit einem Ausschnitt für deinen Kopf…«
»Es gehört mir!«
Ihre scharfe Stimme hätte ihn erschreckt. »Das bestreitet auch keiner. Glaub nur nicht, dass ich es dir wegnehmen will. Nein, nein, es befremdet mich nur etwas. Ich habe dieses Kleid noch nie an dir gesehen. Wo hast du es her?«
»Gekauft!«
Umberto runzelte die Stirn. Laura kannte diese Geste an ihrem Vater. Sie besagte, dass er ihr nicht glaubte. »Nein, meine Liebe, nein, das nehme ich dir nicht ab. Ich glaube nicht, dass du es gekauft hast. Das kannst du mir nicht erzählen.« Sein Lächeln wurde hart. »Du hast es dir irgendwo besorgt.«
»Ja, im Geschäft.«
»Nie!«
Laura wusste, dass ihr Vater einen Dickkopf hatte. Es würde schwer werden, ihn überzeugen zu wollen. Auf der anderen Seite hatte sie es auch nicht vor, denn, ihr Vater war für sie nur mehr ein Mann unter vielen. Ein Fremder, der sich ihrer Aufgabe niemals in den Weg stellen durfte.
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